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Preisträger 2019 gekürt: Bilanz und Fazit zum Sehsüchte-Festival in Potsdam

Auf dem 48. Studentenfilmfestival Sehsüchte in Potsdam setzten sich zwei Filme aus postsowjetischen Ländern an die Spitze. Das Festival war ein Erfolg, aber es ist noch Luft nach oben.

Potsdam - Dinaras Befreiungsschlag stellt alles auf den Kopf. Es waren ehemalige Schulfreunde, die die junge Kasachin gegen ihren Willen im ehemaligen Haus der Familie festhielten. Sie wollten Geld von der Tochter reicher Eltern, um die versehentliche Tötung eines Unbekannten zu vertuschen. Was in einem korrupten System möglich scheint, lehnte Dinara aus Prinzip ab. Sie bietet an, den Freunden Geld zu geben, um ihren Familien zu helfen – aber nicht, um ein Verbrechen zu verdecken. Ihr geht es um Moral, Menschlichkeit und Mitgefühl. Die anderen werfen ihr hingegen vor, dass ihr Vater nicht auf ehrliche Weise reich geworden sei, dass auch er für Vertuschung gezahlt habe.

Die Schlinge zieht sich immer weiter zu, Dinara wird von den anderen eingeschlossen, wird schließlich sogar Opfer deren sexueller Gewalt. Dann hört man drei Schüsse, sieht Blut und Dinara flüchten. Die letzten Szenen lassen viele Fragen offen. Dinaras Vater klärt die Situation mit seinem Geld. Es geschieht also genau das, was die anderen von ihr wollten, was sie aber kategorisch abgelehnt hatte. Ist also doch alles so, wie Dinara vorgeworfen wurde? Oder hat sie aus Rache für das Leid, das ihr angetan wurde gehandelt?

„Bad Bad Winter“ („Tak sebe zima“) ist ein starker, vielschichtiger und kontroverser Film. Zu Recht hat er am Sonntag den Hauptpreis des diesjährigen Studentenfilmfestivals Sehsüchte der Filmuni Babelsberg erhalten (5000 Euro). Regisseurin Olga Korotko will mit ihrem Film keine Botschaft transportieren, sondern vielmehr Fragen aufwerfen. Sie will dazu motivieren, über die Situation in ihrem Heimatland Kasachstan nachzudenken, erklärte die Filmemacherin am Freitag in Potsdam. „Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, dazwischen gibt es keine Mittelklasse, das ist die Ursache für vielerlei Entwicklungen im Land“, sagte die Regisseurin. Es geht ihr darum, die Absurditäten und Unmenschlichkeit zu zeigen, die aus einem korrupten System resultieren.

Zwei Dinge sind es, die sich wie ein roter Faden durch die Preisträgerfilme in diesem Jahr ziehen. Einmal zeigen viele der ausgezeichneten Arbeiten ein hohes Maß an künstlerischer Abstraktion. Schüsse, Gewalt und Bedrohung werden nur auf der Tonspur oder im Bild angeschnitten angedeutet: Gewalt, Feinde, familiäre Abgründe oder der Tod werden selten direkt gezeigt. Was die Wirkung des Bedrohlichen erhöht. Man erinnere sich an die kontroverse Debatte um die expliziten Gewaltszenen in Fatih Akins „Der goldene Handschuh“ auf der diesjährigen Berlinale. Die Abstraktion nun wirkt vielmehr wie ein Gegenentwurf – und hinterlässt den stärkeren Eindruck. Zum anderen haben wir es in den prämierten Beiträgen immer wieder auch mit Gefangenen zu tun: Menschen, die in Situationen, Beziehungen, der Vergangenheit oder auch ihren Ängsten gefangen sind.

So auch in dem Kurzfilm „Sisters“ von Daphne Lücker (Niederlande), der in der Kategorie Future Teens ausgezeichnet wurde (1250 Euro plus 1300 Euro Lizenzrechte). Drei Schwestern sind ganz offensichtlich in einem familiären Abgrund gefangen. Das Bedrohliche bekommen wir aber nur als Schlagen einer Autotür und Schritte mit. Die Darstellerinnen der drei Schwestern lassen die Angst und das Leid im Tanz zum Ausdruck kommen. Bis zum Ende ist nicht zu erfahren, was es eigentlich ist, was die jungen Mädchen bedroht. Auch ohne direkte Worte wird aber klar, dass es um Missbrauch geht. Das ist die Leistung dieser Darstellung.

Ähnlich gefangen ist auch Adelina – in einer Wohnung im georgischen Tiflis, in ihrem ganzen Leben. Sie wurde als Junge geboren – hat sich aber immer als Mädchen empfunden. Für ihren Vater ist es eine Schande, dass sein einstiger Sohn Kleider trägt und faktisch eine Frau ist. Die Gespräche vor der Kamera gehen ziemlich an die Substanz. Die Vorwürfe von Adelina treffen die Eltern sehr, doch Tränen vergießt nur die Mutter, der Vater erträgt alles mit stoischem Blick. Der Film „Prisoner of society“ (Georgien) von Rati Tsiteladze wurde in diesem Jahr als bester Dokumentarfilm prämiert. Ähnlich wie auch in „Bad Bad Winter“ offenbaren sich hier Umbruchskonflikte in einem postkommunistischen System. So etwas wie Transgender existieren im Georgien der Gegenwart ganz offensichtlich nicht, zumindest nicht als gesellschaftlich akzeptierte Lebensform.

Auch der spanische Jugendliche Dani scheint aus der Enge seines Lebens nicht entfliehen zu können. Entweder muss er sich um seine kleine Schwester kümmern oder um die kranke Oma. Seine Mutter hat keine Zeit, an dem Heranwachsenden bleibt alles hängen. Scheinbar ausweglos – doch am Ende keimt immerhin etwas Hoffnung. „Gusanos de seda“ (Spanien) von Carlos Villafaina wurde dafür in der Kategorie Kurzer Spielfilm ausgezeichnet (2500 Euro).

Auch das verbindet viele der prämierten Filme: So ausweglos die Lage scheint, am Ende gibt es doch ein wenig Hoffnung. So auch in dem kurzen Animationsfilm „Nö!“ von Christian Kaufmann, der bei den Kinderfilmen gewonnen hat (2500 Euro). Da errichtet jemand gegen alle Widrigkeiten der Natur ein Haus. Ein Sturm zerlegt es sogleich wieder. Es sieht nicht gut aus. Doch dann baut er es einfach noch einmal – und es gelingt!

Eine Erfahrung der ganz anderen Art war dann der 360-Grad-Film „Fluchtpunkt“ von Béla Baptiste (Österreich), der den diesmal erstmals verliehenen 360°-Preis erhalten hat. Eine Art Mini-Kunstraub-Drama in sechs Minuten, wobei hier der Inhalt weniger wichtig ist als die Form. Man bekam eine Sichtungsbrille und Kopfhörer aufgesetzt und begriff dann recht schnell, wieso man auf Drehstühlen platziert wurde. Einfach mal umdrehen – denn hinten gab es auch etwas zu sehen. Plötzlich war man aus dem Kunstraub heraus und stand mitten in einer Ausstellungseröffnung. Wirklich raffiniert – aber kein Film im Sinne von Kopfkino, dazu ist man dabei dann doch zu sehr mit dem Umherschauen und seinen Sinnen befasst. Nach den sechs Minuten war man dann doch froh, die etwas unbequemen Vorrichtungen auf dem Kopf wieder loszuwerden. Fazit: Noch im Entwicklungsstadium.

Was man zum Studentenfilmfestival Sehsüchte insgesamt nicht mehr sagen kann. Vielleicht ist das Festival gerade in diesem Jahr erstmals wirklich an seinem alten neuen Standort an der Hochschule und auf dem Studiogelände angekommen. Die Eröffnungsgala fand diesmal nicht im fx.Center oder Studiokino, sondern im Kino 1 der Filmuni statt. Nach den Filmen konnte man so direkt in die Eröffnungsfeier im Foyer hineintaumeln. Das hat gut funktioniert. Die Zeiten im Thalia-Kino, das mit seiner direkten S-Bahnanbindung einen Standortvorteil hatte, sind Geschichte, das Festival ist in die Medienstadt mittlerweile gut hineingewachsen. Diesmal waren sogar nachmittags bei strahlendem Sonnenschein die Kinosäle besucht – natürlich nicht ganz ausgebucht. Aber die Abendblöcke Freitag und Samstag waren voll – nach einer vorläufigen Schätzung der Veranstalter lag die Besucherzahl mit rund 5000 auf Vorjahresniveau. Einzig ein spezifisches Potsdam-Berliner Publikum jenseits von Studierenden und Filmwirtschaft lässt sich auf dem von Jahr zu Jahr professioneller werdenden Festival kaum ausmachen. Hier gibt es nach wie vor noch reichlich Luft nach oben.

Die Preisträger

Die wichtigsten Preise in diesem Jahr:

Spielfim lang: „Tak sebe zima“ (engl. „Bad Bad Winter“) von Olga Korotko (Kasachstan / Frankreich)

Dokumentarfilm: „Prisoner of society“ von Rati Tsiteladze (Georgien)

Fokus Produktion: „Der Käpt’n“ von Steve Bache (Deutschland)
Spielfilm kurz: „Gusanos de seda“ von Carlos Villafaina (Spanien)

Future Teens: „Sisters“ von Daphne Lücker (Niederlande)

Animationsfilm: „Good Intentions“ von Anna Mantzaris (Großbritannien)

Future Kids: „Nö!“ von Christian Kaufmann (Deutschland)
360°: „Fluchtpunkt“ von Béla Baptiste (Österreich)

Drehbuch: „Refugium“ von Susann Schadebrodt (Deutschland)

Pitch: „All Roads Lead To No Home“ von Afraa Batous (Deutschland)

Genrefilm (Publikumspreis): „8:27“ von Matthias Kreter (Deutschland)

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