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"Stern Plaza", 1996 errichtet von tchoban voss Architekten. Im Jahreskalender 2021 des Siebdruckkollektivs Studio114 ist es der Mai.

© Studio114

Potsdamer Architekturkalender 2021: Schön ist, was neugierig macht

Das Potsdamer Siebdruckkollektiv Studio 114 will der Moderne eine Chance geben. In dem Jahreskalender 2021 widmet es sich Potsdamer Architektur seit 1990: „Restmoderne“.

Potsdam - Es wird viel gebaut in Potsdams Zentrum, und das Sichtbarste wird am Ende so aussehen, als habe es schon immer dort gestanden. Man wird den Alten Markt und die Fassade des Garnisonkirchenturms mit historischen Bildern abgleichen können und es wird fast wirken, als hätte kein Krieg hier riesige Lücken gerissen.

Der Eindruck, in Potsdam sei seit dem Umbruch 1989 nur Historisches wieder aufgebaut worden, trügt jedoch. Auch jenseits der neu entstandenen Wohnviertel im Norden der Stadt ist in den letzten 30 Jahren viel Neues entstanden: Man muss nur genau hinsehen. 

Dass Restmoderne wie Resterampe klingt? Kein Zufall

Das Potsdamer Siebdruckkollektiv Studio114 hat sich die Mühe gemacht. Der neue Wandkalender für das Jahr 2021 sieht genauer hin. Nach einem Kalender über Potsdams Ostmoderne (2016) und einem über die klassische Moderne (2019) ist jetzt der Blick auf Potsdamer Architektur seit 1990 dran. „Restmoderne“ nennen Tom Korn, Katja Chudoba, Stefan Göttel und Michael Chudoba diese Zeit.

„Restmoderne“, das klingt nicht weit weg von Resterampe: kein Zufall. „Dass da auch etwas Resignation und Beliebigkeit in Bezug auf das Bauen und die Stadtentwicklung in Potsdam nach 1990 mitschwingt, ist durchaus gewollt“, sagt Katja Chudoba. 

Auch die Bibliothek des Leibnitz-Instituts für Astrophysik ist in dem Kalender "Restmoderne" des Studio114 zu sehen.
Auch die Bibliothek des Leibnitz-Instituts für Astrophysik ist in dem Kalender "Restmoderne" des Studio114 zu sehen.

© Studio 114

Viel zu wenige Funktionsbauten mit Anspruch

Schön ist, was eine Spannung erzeugt, sagt ihr Bruder Michael Chudoba. Schön ist, was neugierig macht. Viel zu selten habe man in jüngerer Zeit den Mut bewiesen, Funktionsbauten auch mit ästhetischem Ehrgeiz zu versehen. Der „Sendemast“ der Heiliggeistkirche (1997) ist für ihn so ein Versuch. Streitbar vielleicht, aber immerhin ein Versuch.

Das sofort nach der Eröffnung 2017 stark in die Kritik geratene Schwimmbad blu, den riesigen Potsdamer Hauptbahnhof, die neue Stadt- und Landesbibliothek, die Wilhelmgalerie am Platz der Einheit: All das sucht man umsonst im Kalender. „Wir haben uns auf Gebäude konzentriert, die diese gewisse Spannung erzeugen“, sagt Michael Chudoba. Man habe sie eben nicht überall gefunden. Eher selten sogar.

Die Skulptur "Nach Vorn" (2003) von Alejandra Ruddoff steht an der Potsdamer Humboldtbrücke.
Die Skulptur "Nach Vorn" (2003) von Alejandra Ruddoff steht an der Potsdamer Humboldtbrücke.

© Studio 114

Das Hochhaus am Stern: stolz, geradezu futuristisch

Das Ziel war also: Der Moderne, wo möglich, eine Chance geben. Den Mut haben, genau hinzusehen – auf die Gefahr hin, im vermeintlich Hässlichen, Unliebsamen etwas Schönes zu entdecken. Wie, das zeigt das 24-stöckige Hochhaus Am Stern, von Tom Korn in ungewöhnlicher Perspektive aufgefangen: selbstbewusst, geradezu futuristisch, stolz. Den Gebäuden eine Chance geben, nennt Chudoba das. Auch denen, mit denen man zunächst nicht viel anzufangen weiß. 

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Alejandra Ruddoffs Skulptur „Nach Vorn“ an der Humboldt-Brücke zum Beispiel mochte Michael Chudoba nie. Bei näherem Hinsehen aber entdeckte er, dass der gezeigte Motorradfahrer gar nicht vorankommen kann: Die Stellung der Räder macht es unmöglich. Für Chudoba eine ironische Aussage, die einfach passt. Für den Stau im Verkehr, aber auch für bestimmte festgefahrene Debatten in der Stadt. Und vielleicht überhaupt für eine Stadt, die architektonisch fast immer nur zurückschaut.

Drei von vier: Stefan Göttel, Michael Chudoba und Katja Chudoba haben mit Tom Korn (nicht im Bild) den Kalender 2021 gestaltet.
Drei von vier: Stefan Göttel, Michael Chudoba und Katja Chudoba haben mit Tom Korn (nicht im Bild) den Kalender 2021 gestaltet.

© Andreas Klaer

Eine Entdeckung: Wie Sozialbauten auch aussehen können

Das Biotop hinter der Potsdamer Nutheschlange war noch so eine Entdeckung: Wie Sozialer Wohnungsbau auch aussehen kann. Phantasievoll, individuell. Etwas, sagt Chudoba, das es heute in Potsdam so nicht mehr gäbe. Als „Bollwerk“ schirmt es das Neubauviertel Zentrum Ost von einer Schnellstraße ab. Das 2002 gebaute Terrassenhaus ist sanierungsbedürftig und soll bald wieder abgerissen werden. Es stand dann kaum 20 Jahre.

Das 2006 eröffnete, rot in Richtung Tiefer See züngelnde Hans Otto Theater von Gottfried Böhm Architekten ist ebenso im Kalender wie das pompöse Kongresshotel am Luftschiffhafen aus dem Jahr 1996. Der Kunsthistoriker André Tomczak nennt sie alle: "Gebäude, die von Aufbruch, Anspruch und großen Erwartungen" jener Jahre zeugen. 

Entwurf für den Landtag Brandenburg von Herman Hertzberger. Die Vorlage für seinen Siebdruck fand Tom Korn im Museum in Rotterdam. 
Entwurf für den Landtag Brandenburg von Herman Hertzberger. Die Vorlage für seinen Siebdruck fand Tom Korn im Museum in Rotterdam. 

© Studio 114

Ein moderner Entwurf für den Brandenburger Landtag

Potsdam kann auch modern sein, das wollen die vier Siebdrucker zeigen. Und: Es hätte noch viel moderner sein können. Das letzte Blatt im Kalender verweist auf ein Vorhaben, das nicht umgesetzt wurde. Tom Korn hatte es in den Niederlanden gefunden, im Architekturmuseum von Rotterdam: einen Entwurf für den Landtag Brandenburg von dem Architekten Herman Hertzberger aus dem Jahr 1995. Klare Linien, Dächer, die wie Wellen wirken, in der Farbgebung von Tom Korn senfgelb. Es kam bekanntlich anders. Der Brandenburger Landtag tagt seit 2014 im wiederaufgebauten Stadtschloss. 

Ab 7.11. sind die Drucke eine Woche lang in den Schaufenstern der Gutenbergstraße 53 zu sehen. Der Kalender ist ab 9.11. in ausgewählten Potsdamer Buchläden erhältlich. Einzeldrucke sind unter hello@studio114.de bestellbar.

Lena Schneider

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