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PNN-Serie über Potsdamer Ufer: Hermannswerder: Die Märcheninsel boomt

Mit der Sommerreihe „Potsdamer Ufer“ stellen wir immer donnerstags besondere Orte am Wasser vor. Zum Auftakt führt uns der langjährige Kantor und Musikpädagoge Dietrich Schönherr durch eine Insel, wo Märchenhaftigkeit, jüngere Zeitgeschichte und Potsdamer Gegenwart aufeinandertreffen: Hermannswerder

Es ist ein märchenhaftes Bild. Da sitzt ein Mann im Schatten seines Hauses, eine Pfeife im Mund, vor sich zwei Tassen Kaffee. Um ihn herum blühende Blumen, auf der Fallobstwiese gegenüber bereiten sich die Äpfel sachte auf den Herbst vor. Noch aber ist Sommer, unverkennbar. In die Nachmittagshitze hinein schlug die Kirchenglocke gerade vier. Willkommen auf Hermannswerder. Auf dieser Insel, wo sich Märchenstimmung, jüngere Zeitgeschichte und Gegenwart so nah sind wie wohl nirgendwo sonst in Potsdam.

Der Mann, der hier im Schatten seines Hauses sitzt und raucht, heißt Dietrich Schönherr. An seiner Pfeife war er schon zu erkennen, als er noch jeden Tag hinüber ins evangelische Gymnasium spazierte, um dort Schülern der Sekundarstufe Zwei die Schönheit der Musik – von Bach und Schütz – beizubringen.

Dietrich Schönherr war dreißig Jahre lang Musiklehrer, Chorleiter und Kantor auf Hermannswerder. Er prägte nicht nur das Leben auf der Insel, sondern auch erheblich ihren Geist – diesen legendären Hermannswerder-Geist, von dem ehemalige Schüler auch zehn, zwanzig, vierzig Jahre nach Schulabschluss noch schwärmen. 2010 gab Schönherr das Lehren auf, aber er lebt noch heute hier, inzwischen länger als fast alle anderen Inselbewohner. Statt zum Gymnasium spaziert Schönherr nun täglich hinüber in die Kirche, zum Orgelspielen. Wer könnte ein geeigneterer Begleiter sein, für einen Rundgang über die Insel?

Bevor wir losspazieren, erzählt Schönherr, wie es ihn auf die Insel verschlug. 1981 war das, damals wechselte er als Kantor aus Finsterwalde hierher. Noch heute wirkt er überrascht, dass einer wie er tatsächlich „vom Kantor zum Pauker“ werden konnte. „Pauker“, das hatte er nie werden wollen, den Lehrerberuf wollte er nur ein paar Jahre ausprobieren. Es wurden drei Jahrzehnte. Die besondere Stimmung auf Hermannswerder hielt ihn. Damals, Anfang der 1980er-Jahre, war die Schule ein Kirchliches Oberseminar, mit dem Abschluss war konnte man in der DDR nur Theologie studieren. Ein Ort für Aussteiger, Querdenker. Es gab nicht wie heute 700, sondern 75 Schüler. „Seminaristen“ nannten sie sich, alle waren im Internat untergebracht. Auch Lehrer mussten Internatsdienste ableisten, für Schönherr hieß das: mit den Schülern Skat spielen, danach beim Kontrollgang die paar Füße zu viel in den Betten übersehen. Als Lehrer hier hatte er größtmögliche Freiheit. Der einzige Auftrag lautete: „Das Haus mit Musik füllen.“

„Wegen dem Fach Musik soll keiner durchfallen“, war seine Maxime. Mit Nachlässigkeit der Musik gegenüber hatte das nichts, aber auch gar nichts zu tun. Sondern damit, dass einer wie Schönherr weiß: Zensuren sind ohnehin kein echter Indikator für das, was jemand kann. Zensuren sind Zufall. Im Leben, vermittelte er, geht es um anderes, um Wichtigeres. Das war eine der typischen Hermannswerder-Lektionen. Sie konnten ehemalige Schüler fürs Leben prägen.

Genug geredet. Schönherr packt seine Pfeife und los geht es. Zunächst am „Häuschen mit Rampe“ vorbei. Das einzige behindertengerechte Ferienhaus der DDR!, freut sich Schönherr, in der ihm eigenen Mischung aus Ironie und Ernst. Heute befinden sich hier die Internatsräume des Gymnasiums. Der Garten ist leergefegt: Sommerferien. Bunte Stühle und eine Tischtennisplatte erzählen vom Leben, das hier sonst herrscht.

Linker Hand, angrenzend an Schönherrs Garten, liegen die Behindertenwerkstätten des Oberlinhauses. Auch hier sommerliche Stille. Schönherr kennt die, die hier arbeiten, schon lange: „Alles freundliche Leute.“ Einer steht immer nur da, auf einen Besen gestützt, ohne dass man ihn den Besen je benutzen gesehen hätte. Ein anderer grüßt stets überschwänglich. Vor einigen Jahren gab es einen jungen Mann, der die Gymnasiastinnen mit Katzenrufen umgarnte.

Von der rechten Straßenseite schickt ein Dixi-Klo seinen Geruch herüber: eine Baustelle. „Wir bauen für Ihr Leben gern“, behauptet ein Schild. 16 Eigenheime sollen entstehen. „Sie werden doppelt so teuer verkauft wie die, die daneben vor ein paar Jahren gebaut wurden“, sagt Schönherr.

Potsdam boomt, und die Märcheninsel boomt mit. Man entkommt diesem Boom nicht, oder nur momentweise. „Aufstrebende Unternehmer im Bildungssektor“ nennt Dietrich Schönherr die heutige Hoffbauer-Stiftung freundlich-ironisch. „Und so benehmen sie sich auch.“ Soll wohl heißen: Sie bauen, verpachten, werben, wo sie nur können. „Evangelisch macht Schule!“, protzt der Stiftungsslogan.

Schon die Gründer, Clara und Hermann Hoffbauer, waren vom Unternehmergeist geprägt. Den durch eine Teppichfabrik errungenen Reichtum legte das kinderlose Paar in einer evangelisch ausgerichteten Stiftung an, die im Sommer 1901 eröffnet wurde. Zunächst mit einer „höheren Mädchenschule“ für Waisen. Heute gehören Kitas, Schulen, Fachhochschulen dazu, längst nicht mehr nur auf dieser Insel, die früher mal Tornow hieß und jetzt den Vornamen des Stifters trägt.

Wir folgen einem schmalen Weg, der sich am Ufer entlangschlängelt. Rechts das Wasser. Links die Rückseite des Seniorenpflegeheims, dann ein flacher, orangefarbener Neubau. Das Hospiz. Zwei Weißhaarige sitzen auf der Terrasse und blicken an der Anlegestelle für Wassertaxis vorbei auf die Havel. Was sie dort wohl sehen? Erinnerungen, Vorahnungen?

Unser Pfad führt ins Unterholz. In den Rinden der hohen Buchen kyrillische Zeichen und Jahreszahlen. 1963. 1979. Spuren der anderen Geschichte, die die Insel seit 1945 geprägt hat. Bis 1990 hatte sich hier, im Süden der Insel, ein Militärkrankenhaus der sowjetischen Armee eingerichtet. Eine damals abgesperrte Parallelwelt, ein fast schon absurder Gegensatz zum Kirchlichen Oberseminar.

„Tambow“ hat ein Soldat sein Heimweh in die Rinde geritzt. Die Stadt liegt 2000 Kilometer entfernt von Potsdam. „Die Soldaten waren arm dran“, sagt Schönherr. „Einmal im Jahr spielten unsere Seminaristen gegen die Soldaten Fußball. Wobei wir immer jämmerlich verloren haben.“ Sonst ging man sich, so gut es auf der Insel eben ging, aus dem Weg.

Hinter den Buchen beginnt der Urwald. Naturschutzgebiet. „Tja, hier darf man nicht bauen!“, ruft Schönherr. Fast klingt es triumphal. Tatsächlich wirkt dieses wildwucherne Eckchen so, als sei es dem durchstrukturierten, durchsanierten Rest der Insel abgetrotzt. Triumphal auch Schönherrs Zusatz: „Aber die Mücken, die darf man noch erlegen.“ Es gibt viele Mücken hier, vor allem am kleinen Badestrand an der südlichsten Inselspitze. Ein Schwan schmiegt sich ins hohe Schilf, Kinder baden. Hier ist das Märchen von der stillen Insel noch vollkommen. Der Blick reicht weit über den Templiner See.

Ein ausgetretener Pfad führt rechts zurück in zivilisierte Gefilde. An einem Gehege vorbei – hier soll es einen Esel geben – geht es zum Inselhotel. Vier Sterne. Jüngst feierte es 20-jähriges Bestehen, mit allerhand Potsdamer Prominenz. Am Ufer eine Sauna. Die ist nur für Hotelgäste.

Hier baden die Kinder nicht im See, sondern im Pool, von wo sie die Havel immerhin sehen können. Weiße Bademäntel. Und hält da nicht jemand ein Cocktailglas? „Wenn wir Hermannswerderaner ein Glas trinken wollen, gehen wir zum Alten Tornow, nicht hierher“, erklärt Schönherr. Der „Alte Tornow“ wirbt mit Hausmannskost in Kleingartenatmosphäre. Das Inselhotel mit Pfifferlingen und Seeblick auf der selbstverständlich „schönsten Insel Potsdams“. Mehr muss man nicht sagen über die Beziehung zwischen Schönherr und Inselhotel.

Kein Zaun trennt Hotelgelände vom Rest der Insel. Dafür ein Schild: Fahren, Angeln, Grillen, Campieren, Baden, Verunreinigen und Lärmbelästigung verboten! „Verboten“ ist gefettet.

Das Gymnasium, in dem Schönherr drei Jahrzehnte unterrichtete, lassen wir links liegen. Sentimentalitäten sind nicht seine Sache. Ohnehin konnte er mit einigen der Neuerungen im Schulbetrieb nach 1989 nicht viel anfangen, vielleicht ist es da noch leichter, nicht wehmütig zu sein. 1990 wurde das Kirchliche Oberseminar in das evangelische Gymnasium umgewandelt. Mit der Wende hielten Rahmenpläne Einzug, ein gewisser Wettkampfgeist im Schulbetrieb, das Abitur wurde dezentralisiert. Für Schönherr bedeutete all das: weniger Freiheit in der Unterrichtsgestaltung. Aber es gab weiterhin Chorfahrten, weiterhin Haydn, Schütz, Bach, und auch Gospel. Nur „poppiges Zeug“, das hätte es bei ihm nie gegeben.

Über den stillen Schulhof schlendern wir weiter, immer am Ufer entlang, in Richtung Backsteinkirche, Baujahr 1911. In einigen Bäumen hängen Infotafeln zur Geschichte der Stiftung. Alte Fotos erzählen von der Powerfrau Clara Hoffbauer und ihrem früh verstorbenen Hermann, von der erzwungenen Umwandlung der evangelischen Stiftung in eine Einrichtung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, von der sowjetischen Besatzung nach 1945. Und von den Diakonissinnen auf Hermannswerder. Auf einer Aufnahme von 1930 präsentiert sich eine Hundertschaft von ihnen stolz der Kamera, unter ihnen viele jüngere. Seit den 1950er-Jahren wurden es beständig weniger, seit den 1970ern, erzählt Schönherr, nahm der Orden niemanden mehr auf. Auf einem Bild von 1980 sitzen noch vier alte Frauen auf einer Bank. Heute lebt nur noch Schwester Erika auf der Insel. „Sie war immer das Küken“, sagt Schönherr. Heute ist sie Ende achtzig.

Aus einem Flachneubau nahe der Kirche wehen Musikklänge herüber. „Glasunow, die fünfte!“, ruft Dietrich Schönherr. Die Musiker der 41. Potsdamer Orchesterwoche proben in dem Neubau. In den 1980ern wucherte hier wildes Gras, weswegen der Ort die „Elfenwiese“ genannt wurde. Heute ist der Rasen kurz, kein Ort für Fabelwesen. Dietrich Schönherr selbst hat die Idee zur Potsdamer Orchesterwoche vor vielen Jahren aus Finsterwalde mitgebracht. Bis 2012 war er deren musikalischer Leiter. Aber jetzt drängt Schönherr weiter: keine Zeit für Sentimentalitäten. „Man muss seine Kinder loslassen können.“ Wird einem nicht doch wehmütig, wenn sie dann alleine losziehen? „Ach, das gehört zum Leben.“ Lachen. Ein Zug an der Pfeife.

Der Spaziergang neigt sich dem Ende zu. Nur den „Schwesternstrand“ will Schönherr noch zeigen: Hier hat er die Oberin höchstselbst baden sehen. Ungern allerdings sah man, was am Tag von Schönherrs Hochzeit mit seiner zweiten Frau geschah. Ein heißer Julitag. Die Gesellschaft schwitzte, man ging schwimmen, „so wie man das eben machte damals“. Als Braut und Bräutigam im Wasser standen wie Gott sie geschaffen hatte, ein Ruf aus dem Mutterhaus: „Bedecken Sie sich!“

Gelebter, auch mal prüder Protestantismus, ein freier Geist und eine Spur Inselverrücktheit: Der berühmte Hermannswerderaner Inselgeist muss eine Mischung aus all dem gewesen sein. Und heute? Wie viel von dieser Mischung hat sich halten können, zwischen Baugruben, Dixi-Klo, Unternehmertum und Vier-Sterne-Wellness? Für Schönherr ist dieser Geist Vergangenheit. Was bleibt, ist die herrliche Natur, das Wasser, auf dem er segeln kann, die Kirche mit der Orgel. Die Vergangenheit macht ihm Spaß, das merkt man, wenn man mit ihm spricht. Aber er lässt sie Vergangenheit sein, ohne Groll.

Auf dem Rückweg eine Stippvisite bei Freigeistern der neuen Zeit. Bei denen, die das richtige Leben nicht in der Religion suchen, sondern in der alternativen Lebensform. Und das auch hier auf der Insel. Vielleicht ist dort, in der Wagenhausburg, ja etwas vom alten Geist zu finden? Seit 2001 ist das alternative Wohnprojekt neben der Fähranlegestelle angesiedelt, seit 2003 in Wohnwagen. Beim ersten unangemeldeten Anlauf, dem Gruß über den Gartenzaun, schickt Wagenhausburg-Bewohnerin Johanne mich wieder weg: Sie will erst die Mitbewohner befragen. Aber ich darf wiederkommen. Am nächsten Morgen geben sie und Mitbewohner Steffen Auskunft, und Kuchen gibt es auch. Sie sind vorsichtig geworden, erzählt Steffen, der seit zehn Jahren hier wohnt, seine Tochter wurde hier geboren. Es gab seltsame Begegnungen mit der Presse. Dabei teilen sie eigentlich gerne, was sie haben. Miteinander – es leben 13 Erwachsene und sechs Kinder hier –, aber auch mit der Außenwelt. Vor wenigen Tagen gab es eine Soli-Veranstaltung, Musik und Essen für alle. Und dann gibt es noch regelmäßig das Kulturfrühstück.

Sie fühlen sich wohl hier – und zuhause im Hermannswerderaner Gemisch: Die Ausbildungsstätten für soziale Berufe, die Werkstätten, die Einrichtung für Schulabbrecher gleich nebenan. Und die anderen Inselbewohner? „Leben und leben lassen“, sagen sie. Nach Jahren des Ringens ist ein Ausweichprojekt unweit von hier gefunden worden. Im Vergleich zu Angeboten auf Verkehrsinseln und auf Weidewiesen ohne festes Gebäude das Bestmögliche, wie Steffen sagt. 2018 werden sie wohl umziehen. Das Gelände der Wagenhausburg soll dann, wie die Stadt es schon so lange will, für Millionen verkauft und neu bebaut werden. Hochwertiges Wohnen statt bunter Wohnwagen.

Und der Hermanswerderaner Geist? Davon haben sie nicht gehört, aber Steffen und Johanne überlegen. Nein, den Mann mit der Pfeife, Dietrich Schönherr, kennen sie nicht. „Aber hier hat sich in den letzten Jahren vieles verändert“, sagt Johanne. Sie wisse ja nicht, ob das hierher gehört, aber dann erzählt sie von „Pro Tornow“, dem Aufbegehren einiger Hermannswerderaner gegen das geplante Asylbewerberheim. Es fanden sich damals viele Unterzeichner auf der Insel, auch das Inselhotel war dabei. „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“, steht dagegen auf einem Plakat vor der Wagenhausburg. Das ist Hermannswerder: Märchen und Markt, und zum Glück immer auch ein Restchen Idealismus.

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