zum Hauptinhalt
Autorin Lot Vekemans.

© Merlin Daleman/promo

Niederländische Literatur in Potsdam: Zu höflich, um sich zu beschweren

Die niederländische Autorin Lot Vekemans liest in der Kleist-Schule aus ihrem bewegenden Roman „Ein Brautkleid aus Warschau“. 

Von Helena Davenport

Potsdam - Bereits auf den ersten Seiten gerät man als Leser von „Ein Brautkleid aus Warschau“ ins Stocken, muss erst einmal schlucken, was Protagonistin Marlena schlucken muss. Zum Beispiel dann, wenn ihre Mutter zu der Nachbarin sagt, dass sie zum Glück wisse, dass Marlena zu Hause geboren wurde, denn sonst müsste sie sich fragen, ob ihre Tochter im Krankenhaus verwechselt wurde. Spitzer können die Worte einer Mutter wohl nicht ausfallen. Dabei gehört sie, die Mutter, doch zu den wenigen vertrauten Menschen um Marlena. Aber gerade ihnen gegenüber kann sie sich nicht öffnen.

Mitte zwanzig ist Lot Vekemans’ Protagonistin, ihre Heimat Polen hat sie noch nie verlassen. Genau genommen spielte sich ihr Leben hauptsächlich in ihrem elterlichen Haus auf dem Land ab. In der Einöde, wo alle Familienmitglieder an einem Strang ziehen müssen, um zu überleben, und dennoch ist jeder einsam für sich. Die Männer greifen zur Flasche und werden grob, die Frauen sind frustriert und kaltherzig. So beschreibt Marlena, die im ersten Teil von Vekemans Buch die Ich-Erzählerin ist, ihr Umfeld. Irgendwann begann ihr Opa so viel zu trinken, dass er morgens nicht mehr aus dem Bett kam – von da an melkte sie die Kühe alleine.

Eine präzise Sprache

Heute Abend stellt Vekemans ihren Roman, der bereits 2012 in Niederländisch und 2016 in deutscher Übersetzung von Eva Pieper und Alexandra Schmiedebach erschienen ist, in der Potsdamer Heinrich-von-Kleist-Schule vor. Es ist das erste Buch der niederländischen Dramatikerin, deren Theaterstücke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden.

In „Ein Brautkleid aus Warschau“ befördert sie den Leser geradezu und ohne Umschweife in den Kopf der jungen Frau. Durch ihre wunderbar gerade und präzise Sprache meint man, Marlenas Hund in den Feldern toben zu sehen oder empfindet die Enge schon fast schmerzhaft nach, in die ihre Mutter sie drängt. Eigene Entscheidungen – so etwas gibt es hier nicht. Marlena weiß, dass sie sich selbst und ihr ungeborenes Kind nur schützen kann, indem sie über die Landesgrenzen flieht. Aber auch in ihrer neuen Heimat, den Niederlanden, eigentlich bereits auf der Reise dorthin, wird ihr immer wieder bewusst, dass sie keine Wahl hat, nicht als Polin. Ihre große Liebe hat sie im Stich gelassen – „Was sollte er auch mit einem polnischen Mädchen, ohne Ausbildung, mit einer stockkatholischen Familie“ – und ihre Mutter würde sie mit ihrem Cousin verheiraten, würde sie bleiben. Das Wort „freiwillig“ sei für einen Polen ein hohler Begriff, sagt später im Buch auch Katrina vom polnischen Kulturverein in der niederländischen Gemeinde Breda.

Es bleibt die Ohnmacht

Man liest weiter, will Vekemans Roman nicht mehr aus der Hand legen, man fliegt von Zeile zu Zeile. Vom bösen Traum zum Rückblick, durch Gedankenkonstruktionen in die Gegenwart – weil man so den Protagonisten näherkommt, und weil man ständig hofft, dass es doch besser werden müsste. Dabei lernt man, je tiefer man eindringt, dass hier jeder handelt, wie er denkt, handeln zu müssen. Jeder sieht sich gezwungen, muss Pflichten gerecht werden, oder viel banaler: den Erwartungen der anderen. Irgendwann ist auch Marlena diejenige, die verletzt. Dafür hat sie ihren Grund.

Später übernimmt Andries das Wort, im zweiten von drei Teilen. Zu ihm in die Niederlande war Marlena gezogen, nachdem sie meinte, nicht länger bei ihrer Familie bleiben zu können. Eine Heiratsagentur hatte beide verkuppelt. Die arbeitsame Marlena und den gutmütigen Bauern Andries, der zu höflich ist, um sich zu beschweren. Dem sogar von seiner Schwester vorgeworfen wird, dass er zu höflich ist. Noch so eine Stelle, an der man als Leser kurz schlucken muss. Aber auch die Schwester, deren Fürsorge einer Vormundschaft gleicht, kann man irgendwie verstehen. Ihr Leben lang hat sie sich um den Bruder gekümmert, obwohl sie auch selbst Probleme hat. Schwarz oder weiß ist das Leben eben nicht. Eine Lösung für alle existiert nicht. Was bleibt, ist Ohnmacht.
>>Lesung mit der Schauspielerin Dominika Otlewska-Dräger am 7. November um 19 Uhr in der Heinrich-von-Kleist-Schule, FriedrichEbert-Straße 17

— Lot Vekemans: Ein Brautkleid aus Warschau. Wallstein Verlag, 2016, 253 Seiten, 19,90 Euro.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false