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Emile Pineaults "More Than Things" mutet rosa-fluffig an und hat doch Tiefe. 

© Brin Schoellkopf

Made in Potsdam eröffnet: Verschwimmende Gewissheiten

Mit dem fluffigen Tanzstück „More than things“ des kanadischen Studios Québec eröffnete das „Made in Potsdam“-Festival.

Potsdam - Surreal, verspielt und sinnlich startete das neunte „Made in Potsdam“-Festival. Am Mittwochabend eröffnete die Inszenierung „More than things“ von Emile Pineault aus Montréal den fünftägigen Ausstellungs-, Konzert- und PerformanceReigen in der Schiffbauergasse.
Anders als gewohnt, saß man hierbei nicht im fabrik-Zuschauerraum, sondern auf der Bühne, in einer vierseitigen Arena, die um einen großen runden blassrosa Stoffteppich angeordnet war. Auf dieser Spielfläche saßen sich ein Mann und eine Frau, beide mit nacktem Oberkörper und nur mit weißen Strumpfhosen bekleidet, einander abgewandt gegenüber. Diese Unisex-Kostümierung von MarieAudrey Jacques unterlief genauso wie das blassrosa Bühnenbild von Pénélope und Chloë die eigenen Sehgewohnheiten. 

Weiterhin befanden sich auf diesem seltsamen Untergrund sicht- und unsichtbar mehrere weiche Objekte aus Lackleder, Kunstfell und Baumwolle. In Form von größeren Stoffstücken, als Stoffringe, die Riesen-Donuts oder Schwimmringen ähnelten, oder als überdimensionierte Rollen, knautschig wie Sitzsäcke.

Elastizität und Kraft

In diesem künstlichen rosa Raum, der sowohl an ein Mädchenspielzimmer als auch an Körperinneres oder gar Unterwasserwelten erinnerte, bewegen sich die beiden Tänzer-Akrobaten Claudel Doucet und Emile Pineault anfangs wie in Zeitlupe, ausschließlich am Boden, in der horizontalen Ebene. Sie reiben mit ihren Armen und Beinen über die umherliegenden Stoffobjekte, tasten sich langsam von einem zum nächsten, rollen scheinbar absichtslos mit ihren eigenen Körpern aufeinander zu. Etwas Somnambules hat das. Inklusive der Geräusche, die dabei entstehen, beim Reiben, Scharren, Quetschen.  Im dann einsetzenden Zwielicht stehen beide schließlich Rücken an Rücken. In diesem zweiten Teil der insgesamt surreal anmutenden Performance stehen ihre überaus biegsamen Körper im Mittelpunkt. 

Emile Pineaults Tanzstück „More Than Things“.
Emile Pineaults Tanzstück „More Than Things“.

© Brin Schoellkopf

Mit großer Elastizität und Kraft fusionieren die beiden Akrobaten zu imposanten Körperfiguren, bilden lebendige Plastiken, die zu einer verschmelzen und manchmal an Hieronymus-Bosch-Gestalten erinnern. Stark, dass Claudel Doucet in dieser Paarkonstellation Emile Pineault hebt und trägt. Auch hier keine Geschlechterrollen-Gewissheit. Doch nach kurzer Zeit gleiten beide wieder auseinander und unter das rosa Bodentuch. Ihre Körper werden unsichtbar und sie selbst bewegliche Teile der insgesamt fluiden Installation, die so einiges in ihrem Inneren verbirgt. Was in einer weiteren Szene langsam sichtbar wird: noch mehr, jetzt andersfarbige Stoffskulpturen kommen unter dem Tuch zum Vorschein und füllen die Spielfläche. Mit einigen von ihnen treiben Doucet und Pineault ihre akrobatischen Paar-Übungen weiter.

Das Stück öffnet einen queeren Raum

Mithilfe eines roten Stoffringes verbinden sie ihre Körper und durchdringen ihre Beziehung. Und ihre Körper treten ein in einen sich dynamisch steigernden Reigen mit den Objekten, die dabei ein Eigenleben entwickeln. Intensiviert wird die Auseinandersetzung mit dem Material, als beide versuchen, Stoffringe Rollen eng zusammenzuwickeln und so in festere Formen zu verwandeln. Doch das Weiche lässt sich nicht bändigen. Ganz im Gegenteil. Im dynamisch-ironischen Finale übernimmt schließlich ganz das Material die Regie. Im Gewirr von Ringen, Stoffschlangen, -tüchern und -rollen verschwinden die Personen und mit ihnen auch die letzten Gewissheiten. Nach einer für die Zuschauer unsichtbaren Verwandlung erscheint final eine schwarzgekleidete Figur – wohl die Frau – mit dem Maskengesicht des abwesenden Mannes. Sie lässt aus einem schräg hängenden Glaszylinder langsam grüne Raupen auf den Boden tropfen. 

„More than things“, das nach einer zweimonatigen Residenz des Studios Québec bei „Made in Potsdam“ seine Vorpremiere feierte, besticht durch seine ungewöhnliche Materialität, die akrobatischen Qualitäten der Tänzer und die immer stärker verschwimmenden Grenzen und Gewissheiten. Anstatt einer binären Geschlechtsidentität geht es „More than things“ darum, einen von der nach wie vor herrschenden gesellschaftlichen Heteronormativität abweichenden queeren Raum zu eröffnen. Als eine Art Möglichkeitsort verschiedenster geschlechtlicher Identitäten und Rollen. Darüber hinaus wird auch die alles gestaltende männliche Kraft infrage gestellt, und stattdessen dem Weichen, Fließenden, letztlich Chaotischen jede Menge veränderndes Potenzial eingeräumt. 

>>„Made in Potsdam“, Festival in der fabrik, Schiffbauergasse, bis 2. Februar

Astrid Priebs-Tröger

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