zum Hauptinhalt
Die Tänzerin Anna Nowicka versetzte das Publikum in eine Art Trance-Zustand.

© Katarzyna Szugajew

Letzter Abend des "Made in Potsdam"-Festivals: Ein Tanz, der zu Tränen rührte

Der letzte Abend des "Made in Potsdam"-Festivals explodierte fast vor energetischer Gegensätzlichkeit - dabei ging es durchaus emotional zu.

Potsdam - Es ist stockdunkel. Nur das Licht einer Taschenlampe weist dem "Made in Potsdam"-Publikum am Samstagabend schemenhaft den Weg zu den Plätzen im Zuschauerraum des T-Werks. Doch ein Stromausfall ist nicht die Ursache. Die Dunkelheit soll als mental-emotionale Einstimmung auf das außergewöhnliche Tanzsolo „Raw Light“ der zwischen Berlin und Polen pendelnden Choreografin, Tänzerin und Psychologin Anna Nowicka dienen.

Der Tanz führt in einen fluiden Zustand

Anna Nowicka liegt ganz in Schwarz gekleidet, in der hintersten Ecke der Bühne im Dunkel auf dem Boden. Während der nächsten Dreiviertelstunde entführt sie die Zuschauer in einen sehr fluiden Zustand des Unbewussten und (Alb-)Träumens. In der Dunkelheit, in der alle Sinne geschärft sind, steigt dem Publikum ein herb-aromatischer Geruch in die Nase: So könnte es im Wald oder auch in einer Sauna riechen. Ans Draußensein erinnert auch der Sound, der manchmal wie ein Lagerfeuer knackt später metallisch vibriert. Doch dann beginnen kleine Lichtflecken über die schwarzen Wände im T-Werk zu tanzen – jetzt mutet es an wie Discozauber – ein Gemisch aus Spiegelkugel und Handyleuchten.

Anna Nowicka widmet sich schon seit sechs Jahren den physischen Zuständen des Träumens und fragt in ihren Projekten auch nach den Grenzen zwischen Fiktion und dem, was wir für „real“ halten. Aus ihrer künstlichen Nacht entwickelt sich später fahler Dämmer. Dann sitzt Nowicka, bei der zu diesem Zeitpunkt nur Gesicht und Hände sichtbar sind, im Fersensitz ganz vorn auf der Bühne. Und ihre Arme – diese sind die aktivsten Teile ihres Körpers während des gesamten Solos – vollführen rasend schnelle zuckende, flügelnde, schlagende und schlängelnde Bewegungen. Sie scheinen wie losgelöst von dem unbeweglichen Körperrest.

Mit dem Gesicht landet sie auf dem Boden

Doch dann landet die Tänzerin als Ganzes wieder bewegungslos mit dem Gesicht auf dem Boden. Auf dem Nullpunkt sozusagen, nicht ahnend, dass die nächste (Traum-)Welle sie bäuchlings erbeben und erdgebunden und himmelstrebend zugleich über den Boden wandern lässt. Wie sie da, wie ziellos ferngesteuert, laut hustend und später mit herausgestreckter Zunge den zwielichtigen Raum ausfüllt, erinnert „Raw Light“ nicht nur energetisch an die Bildwelten von Hieronymus Bosch.

Das ungewöhnliche und ausdrucksstarke Solo triggert augenscheinlich auch die Traumwelten anderer. Denn wie sonst ist zu erklären, dass Anna Nowicka, nachdem sie im letzten Drittel wieder in bewegungslose, diesmal helle Stille abtaucht, sich dann auf die Zuschauertribüne setzt und kurz darauf von einer fremden Frau neben ihr – mit Tränen in den Augen – in den Arm genommen wird. Alle anderen bleiben gefühlt ewig bewegungslos sitzen und die Tänzerin muss am Ende ihrer Traumsequenz mit einer deutlichen Geste anzeigen, dass geklatscht werden darf. Das fühlt sich an wie das Auftauchen aus einer anderen Realität, die einen einer Hypnose ähnlich gänzlich aufgesogen hatte.

In der fabrik gab es die Deutschland-Premiere von "Da Capo"

Zwielicht herrscht wenig später auch auf der Bühne in der fabrik, in der als der diesjährige Höhepunkt des Made-in-Potsdam-Festivals die Deutschlandpremiere von „Da Capo“ von Yui Kawaguchi und Aki Takase begeistert gefeiert wird. Die Atmosphäre in der fabrik erinnert an eine schicke Hotelbar, in der sich drei Musiker und zwei Tänzer aus verschiedenen Teilen der Welt wie zu einer (spontanen) Jam-Session zusammenfinden.

In „Da Capo“ sind das die gefeierte japanische Jazzpianistin Aki Takase, der französische Bassklarinettist Louis Sclavis und der Live DJ und Soundscaper Vincent von Schlippenbach – allesamt Meister ihres Faches und ungemein interessiert an ihrem musikalischen Gegenüber, mit dem sie wechselweise in musikalisch experimentierende Dialoge treten. Dazu gesellen sich die zeitgenössische und technisch perfekte Tänzerin Yui Kawaguchi und der junge aus Ghana stammende Kofie da Vibe, der sich dem Hip Hop und dem Krump verschrieben hat. Diese fünf sehr diversen Energiebündel – Takase ist inzwischen siebzig – verhalten sich zueinander wie die Protagonisten einer guten Liebesbeziehung: jeder darf sein, wie er oder sie ist und alle tragen ihren ganz speziellen Teil zu einem gemeinsamen gelingenden Ganzen bei. Einziges Manko: Die Tänzer hätten möglicherweise etwas mehr Bühnenraum, ja vielleicht ein Podest gebraucht, um neben den Musikern, die mit ihren Instrumenten schon sehr präsent sind, noch etwas stärker zur Geltung zu kommen.

Auf einer fulminanten und sich bis zum musikalischen Siedepunkt steigernden Tonspur aus Jazz, Neuer Musik, Folklore Imaginaire, Hip Hop und elektronischen Klanglandschaften begegnen sich die beiden körperlich und kulturell sehr unterschiedlich geprägten Tänzer. Die kleine, zarte und sehr biegsame Japanerin und der große, energiegeladene und mit jeder Körperfaser vibrierende Ghanaer kreierten wunderbar zeitgenössische Pas des deux – mal innig, mal kämpferisch, mal witzig – und immer offen und neugierig auf das, was der oder die andere ist. Klasse auch, wie zum Ende hin bei Swingmusik alle Grenzen schließlich aufgehoben zu sein scheinen.

Astrid Priebs-Tröger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false