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Ausgezeichnet. Esther Kinsky erhielt 2018 den Leipziger Buchpreis.

© J. Kalaene/dpa

Lesung in Wilhelmshorst: Tagebuch der Trauer

Esther Kinsky erhielt für „Hain“ den Preis der Leipziger Buchmesse. Jetzt liest sie im Peter-Huchel-Haus.

Die Handlung von Esther Kinskys mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2018 ausgezeichneten Roman „Hain: Geländeroman“ lässt sich schnell zusammenfassen: Auf den Spuren ihres verstorbenen Mannes reist die Ich-Erzählerin durch Italien und zu sich selbst. Die Handlung des Romans steht jedoch nicht im Vordergrund. Vielmehr geht es um die Sprache, die ein sensibles, fast paralysiertes Ich entwickelt, das alles um sich herum wie durch einen nebligen Schleier wahrnimmt und versucht, sich nicht nur in einem fremden Land, sondern in einer plötzlich fremden Welt zurechtzufinden.

Die erste Station der unprätentiösen Reise durch Italien stellt die Stadt Olevano dar. Der Leser erfährt dabei jedoch nichts über Geschichte oder Geschichten der Stadt – im Mittelpunkt des Kinsky’schen Erzählens stehen Holz- und Steinstrukturen, Farben und Gerüche. Selbst „M“, der verstorbene Mann der Erzählerin, taucht nur beiläufig auf, beispielsweise dann, wenn ihr ein Koffer mit seiner Kleidung geklaut wird, die sie vorhatte, zu tragen.

Erkundung der Friedhöfe

Der „Geländeroman“ ist vor allem eine Erkundung der Friedhöfe verschiedener italienischer Städte. Auf dem Friedhof in Olevano begegnet die Erzählerin Maria Tagliacozzi, verstorben 1972, deren Foto auf ihrer Grabplatte von der Sonne bereits stark verblichen ist. „Maria Tagliacozzi“, so die Ich-Erzählerin, „konnte für die verbleibende Zeit meines Aufenthaltes meine Olevaner Tote werden, die meinen täglichen Friedhofsbesuchen einen Grund verlieh.“ In diesem Satz ist das Grundthema des Textes angelegt: Es geht darum, in einer Welt Anschluss, einen Grund für das eigene Dasein zu finden, in der die Zerbrechlich- und Vergänglichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen die eigenen Gefühle soweit lähmt, dass die beständigsten Beziehungen die zu den Toten sind. Doch auch diese Beziehungen können nicht von Dauer sein: Spätestens wenn die Ich-Erzählerin weiterreist und beispielsweise Olevano verlässt, um nach Chiavenna, in ihre Kindheit und zu einem anderen Toten, ihrem Vater, zu reisen, der während einer Hitzewelle starb, endet auch dieses eher einseitige Gefühl der Verbundenheit. Kinsky schildert – wie im gesamten Text – immer wieder kleine, in sich abgeschlossene Szenen, die mehr über ihre Protagonistin und deren Weltwahrnehmung verraten, als dass sie eine in sich genuine Handlung entwickeln.

Fotos als Gegenpol zur Trauer

Im letzten Teil des als Triptychon angelegten Romans bereist die Erzählerin die an der Adria gelegene Stadt Comacchio, deren Gelände vor allem mittels Schwarz-Weiß-Fotografien erkundet wird. Diese Fotografien sind es auch, die einen Gegenpol zur Trauer der Erzählerin setzen. Denn trotz der Abwesenheit bunter Farben sind sie eine Hommage an die Natur, an die Landschaften und Pflanzen, die zwar die Trauer nicht mindern, ab in ihrer Lakonie auf eine Zeit nach der Trauer hinausweisen. Die Natur, die Landschaften, das Gelände stellen in Kinskys Schaffen ein zentrales Themenfeld dar: Bereits in ihrem Roman „Am Fluss“ zeichnet die Autorin ein beeindruckend auratisches Bild einer Flusslandschaft in der Nähe Londons.

Esther Kinsky, 1956 in Engelskirchen in Nordrhein-Westfalen geboren, studierte Slawistik und arbeitete lange als Übersetzerin, worin sie bereits früh ihr außergewöhnliches Gefühl für Sprache unter Beweis stellte. Sie veröffentliche mehrere Lyrikbände, aber auch Kinderbücher und Romane, für die sie etliche Preise erhielt, darunter neben dem Preis der Leipziger Messe den Preis der SWR-Bestenliste für „Am Fluss“ und den Adalbert-von-Chamisso-Preis 2016. 

Lesung im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst, Hubertusweg 4, am 4. September um 20 Uhr. Es moderiert Jürgen Israel

— Esther Kinsky:

Hain. Geländeroman. Suhrkamp 2018, 287 Seiten, 24,80 Euro.

Christoph H. Winter

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