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"Die Biene im Kopf" (hier mit Luca Lehnert) von Roland Schimmelpfennig in der Regie von Alexandra Wilke eröffnete die neue Spielzeit am Hans Otto Theater.

© Thomas M. Jauk

Kinderstück eröffnet Spielbetrieb am Hans Otto Theater nach Lockdown: Bleigewichte an den Füßen

Kinderarmut, Mobbing, Computerspiele: Die erste Premiere am Hans Otto Theater nach dem Lockdown war das Kinderstück „Die Biene im Kopf“ von Roland Schimmelpfennig. Es zeigt eindringliche Szenen aus einer modernen Kinderhölle.

Potsdam - Es ist seltsam, wenn in einer Kindertheaterpremiere nur Erwachsene im Publikum sitzen. Doch bei dem Stück „Die Biene im Kopf“ von Roland Schimmelpfennig, das am Freitag als erstes Stück nach dem Lockdown in der Reithalle des Hans Otto Theaters die neue Spielzeit eröffnete, war es – wenn auch hier coronabedingt – eigentlich konsequent: Auch der Protagonist in „Die Biene im Kopf“ hat nicht wirklich Kontakt mit anderen Kindern. Schimmelpfennig beschreibt eine moderne Kinderhölle, aus der es für den Jungen im Grundschulalter so gut wie kein Entrinnen gibt.

Dieses Einzelkind lebt bei seinen langzeitarbeitslosen Eltern, die den Tag verschlafen und ansonsten Alkohol trinken und fernsehen. Niemand kümmert sich darum, den Jungen zu wecken, ihm ein Frühstück oder eine andere Mahlzeit zu bereiten oder seine Wäsche zu waschen. Er ist völlig auf sich allein gestellt. Szenen aus Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ kommen einem dabei in den Sinn und doch spürt man sofort, das diesem Jungen noch etwas ganz Wesentliches fehlt: nämlich leibhaftige Freunde.

Ein Junge, drei Stimmen 

Obwohl in Schimmelpfennigs Stück und auch in der dichten, einfühlsamen und berührenden Inszenierung von Alexandra Wilke gleich drei Kinder (gespielt von Luca Lehnert, Gregor Knop und Timo Hastenpflug) mal schwungvoll, mal melancholisch, mal kämpferisch und auch humorvoll durchs Bild toben. Doch sie alle sind (nur) Stimmen im Kopf des Jungen, die mal in der Ich-, Du- oder Wir-Form ihre Ängste und Sehnsüchte eindringlich ins Publikum senden.

Und noch einen Kunstgriff gibt es in „Die Biene im Kopf“. Die Geschichte des namenlosen Jungen wird collageartig und unter Zuhilfenahme von Computerspielelementen erzählt. In einem fantastischen Tagtraum, kurz vor seinem verspäteten Aufstehen, verwandelt er sich in eine Biene, die mit ihren Flügeln allen irgendwie bedrohlichen Situationen entkommen kann. Diese originelle Idee, die durch eine virtuelle Graphic Novel von Franziska Jungebildlich unterstützt wird, wird ihm helfen, auf sechs unterschiedlich schweren Levels durch seinen einsamen, belastenden und existenziell bedrohlichen Alltag – immer wieder ist Hunger ein Thema – zu kommen.

Kinderarmut: Ein Stück, das zum Handeln aufruft

Der wie ihn viel zu viele Kinder und Jugendliche betrifft. Mehr als jedes fünfte Kind wächst laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung  in Deutschland in Armut auf. Das sind fast drei Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Und jedes „arme“ Kind ist eines zu viel, zumal Kinderarmut immer und zuerst Erwachsenenarmut bedeutet. Insofern sollten diese Inszenierung viele Erwachsene sehen, da die nackten Zahlen hier eine bedrückende emotionale Komponente bekommen, die jeden einigermaßen mitfühlenden Menschen zum Handeln zwingen sollte.

Doch auch für Kinder – ab 9 Jahren – ist dieses Stück wichtig. Denn in beinahe jeder Grundschulklasse gibt es Schüler, die von anderen gemobbt oder ausgegrenzt werden, die nicht dazugehören, weil sie äußerlich „anders“ sind: weil sie oft zu spät kommen, kein Frühstück dabei haben, ihre Sachen schäbig oder ihre Arbeitsmaterialien unvollständig sind.

Wie Kinder den Alltag dennoch bewältigen

„Die Biene im Kopf“ zeigt ihnen, den anderen, eindringlich, woher dieses „Anderssein“ rühren kann. Und das Wichtigste am Stück und an der empathischen Inszenierung ist: Beide öffnen den Blick dafür, dass Kinder, die mit solchen Bleigewichten an ihren Füßen oft sehr viel Kraft und Potenzial haben, ihren Alltag dennoch zu bewältigen. Und dass man gerade sie in der Gruppe nicht ausgrenzen, sondern einbeziehen und unterstützen könnte. Beispielsweise mit einem geteilten Pausenbrot oder einem gemeinsam verbrachten Nachmittag. Das Eigentliche jedoch – die Veränderung der sozialen Verhältnisse – können wie bei Kästner nur die Erwachsenen herbeiführen.

„Die Biene im Kopf“ ist wieder am 8.9., 9.9., 10.9. jeweils um 9 und 11 Uhr sowie am 13.9. um 11 und 15 Uhr in der Reithalle des Hans Otto Theaters zu sehen. 

Astrid Priebs-Tröger

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