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Draufblick. Chefdramaturgin Ute Scharfenberg im Hans Otto Theater, im Rücken den Tiefen See.

© A. Klaer

Interview mit Ute Scharfenberg: „Das Theater hat große Taschen“

Ute Scharfenberg ist seit 2009 Chefdramaturgin am Hans Otto Theater. Ein Gespräch über die Kunst der Romanadaption, sozialen Krieg – und die Frage, ob Theater seinem Publikum Spiegel sein kann

Frau Scharfenberg, Sie haben für den Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh die Bühnenfassung geschrieben. Wie macht man aus 635 Seiten drei Stunden Theater?

„Unterleuten“ ist ein Roman, der mit vielen Figuren- und Perspektivwechseln arbeitet und damit eine starke, spannungsvolle Geschichte erzählt. Er setzt die Sichten auf das, was passiert, immer wieder neu zusammen und hinterfragt sie. Dabei arbeitet er mit Dialog, mit Kommentaren, die zum Teil aus den Figuren kommen, zum Teil aber auch von der Autorin, mit Atmosphären. Die Fantasie der Bühne hat eine andere Materialität als die eines Romans, eines epischen Werks. Auf der Bühne spielen Schauspieler Situationen. Man muss also schauen, wie man aus den Ansatzpunkten der Figuren, den Konstellationen, den vielen Vorgängen so etwas wie eine stringente Geschichte auf einem Zeitpfeil erzählt. Wer sind die Hauptfiguren, was sind die Erzählstränge? Wer weiß wann was von wem? Das muss man versuchen, in der Bearbeitung mit abzubilden.

Warum gehört „Unterleuten“ unbedingt auch in Potsdam auf die Bühne – außer, dass es in Brandenburg angesiedelt ist?

Es ist ein Stoff, der konkret über unsere Gegenwart erzählt und einen sehr kritischen Blick auf diese Gegenwart richtet. Ein Stoff, der davon erzählt, woher wir kommen, was wir damit tun – und wohin wir gehen. Ein Stoff, der sich sehr motivreich damit befasst, was unsere Gesellschaft im Moment im Innersten zusammenhält und was sie auseinandertreibt. Denn was den Figuren im Roman widerfährt, ist, dass sie in den Krieg gehen. Gegeneinander, aber auch gegen einen Feind, den sie nicht mehr ganz genau benennen und greifen können. Juli Zeh verbindet das, was die Figuren heute erleben, mit dem, was sie bereits erlebt haben, ihren sozialen Erfahrungen.

Inwiefern?

Eine ganz große Rolle spielt immer wieder die Frage nach dem sozialen Gedächtnis, nach den Erinnerungen. Das Dorf Unterleuten ist ein fiktives Dorf, aber es ist überaus realistisch erzählt. Durch das Dorf sind in den letzten 70 Jahren vier große Eigentumsumbrüche gegangen: Seit 1945 gab es die Bodenreform, die LPG-Gründung, die Umwandlung der LPG nach der Wende und die Ankunft des globalen Investmentkapitalismus. Jede der Umwandlungen hat in den Biografien der Figuren Spuren hinterlassen. Hinzu kommen Leute, von denen Juli Zeh sagt: Menschen ohne Erinnerung. Menschen aus der Stadt. Heimatlose. Sie kommen aus der Stadt auf das Land und erfahren, was das Land, was Landbesitz mit dem Besitzer macht. „Land muss verteidigt werden. Land muss expandieren“, heißt es in dem Roman. Diese soziale, wenn man will sozial-historische Ebene ist eine wesentliche Reflexionsebene des Romans.

Welche Themen sehen Sie noch?

Juli Zeh spricht auch darüber, was mit den Menschen seit der Wende passiert ist. Seit dem Antritt eines Jahrhunderts der „bedingungslosen Egozentrik“, wie es im Roman heißt. In dem Interessen nicht mehr quasi tauschgesellschaftlich ausverhandelt werden, sondern gegeneinander durchgesetzt. Moral ist für die Schwachen, heißt es einmal. Was bedeutet das für die gesamte Wertewelt dieser Menschen? Wie stellen sie sich dazu? Was machen die, die wissen, dass sie schwach sind? Wie verhalten sich die Städter gegenüber den Leuten auf dem Lande? Wie die mit einer ostdeutschen Biografie gegenüber denen mit einer westdeutschen Biografie? All diese Fragestellungen nehmen in den Figuren konkrete Gestalt an, auch indem Figuren versuchen, Allianzen zu bilden, miteinander oder gegeneinander. Der Anlass dafür ist die Ankunft eines Investors, der den Dorfbewohnern den Vorschlag unterbreitet, auf ihr Land Windräder zu bauen, die einen unermesslichen Profit bringen. An diesem Profit aber kann nur der beteiligt werden, der auch Land zur Verfügung stellen kann. Diese Aussicht auf Zukunft, Absicherung und Geld für wenige auf Kosten der anderen trägt den Krieg ins Dorf.

Einen ersten Versuch, den Roman für die Bühne zu bearbeiten, gab es 2017 bereits in Weimar. Da hat man den Krimi in den Mittelpunkt gestellt. Wird das in Potsdam auch der Fall sein?

Der Roman kann sehr viel. Er kann Krimi sein, er ist aber auch ein Gesellschaftspanorama – er ist Ausschnitt aus einer wirklichen Wirklichkeit, hier in Brandenburg. Ein sehr unterhaltsam-kritischer, dialektisch erzählender Stoff über unsere Gegenwart. Dass Juli Zeh ihre Geschichte als Kriminalroman erst einmal unter Spannung setzt, ist natürlich wunderbar. Weil es dem Stoff ermöglicht, am Thema zu bleiben. Juli Zeh ist eine Autorin, die mit politisch sehr wachen Augen durch unsere Welt geht und in ihren Geschichten immer versucht, Realität sehr dialektisch und widersprüchlich abzubilden, oft in Spannungsgeschichten. Das ist auch in „Unterleuten“ so.

Sie bleiben also beim Krimi.

Ja; denn die Krimidramaturgie strukturiert die Geschichte. Was erzählt wird, geht aber weit darüber hinaus.

Gerade das Stichwort Kampf – Sie nennen es Krieg – zwischen denen, die besitzen, und denen, die nicht besitzen, ist konkret für Potsdam ein sehr wichtiges Thema.

Ja. Und dabei entstehen sicher auch Haltungen, die denen im Roman assoziierbar sind.

Wie ging es Ihnen selbst bei der Lektüre? Wie viel Potsdam haben Sie darin gelesen? Oder brauchen Sie diese Dimension gar nicht, um die Vorlage interessant zu finden?

Die Potsdam-Dimension ist ja automatisch drin, insofern, als dass das ein Modell ist, ein fiktives Modell, das hier in der Region Berlin-Brandenburg angesiedelt ist. Und alles, was Juli Zeh beschreibt, vom Biobetrieb über den Pferdehof, die privaten Initiativen und den Naturschutzbund bis hin zu den regionalen Behörden, ist unmittelbar aus unserer Realität gezogen und präzise recherchiert. Unheimlich viele Leute haben den Roman gelesen. Er ist seit seinem Erscheinen ein Bestseller. Wir werden seit Monaten darauf angesprochen, dass wir ihn auf die Bühne bringen. Er scheint tief einzudringen ins Selbstverständnis der Leser. Die Leser scheinen viel wiederzuerkennen, von dem, was sie bewegt. Eine Figur sagt: „Ich erzähle es dir, weil es dich betrifft.“ Das ist das Wirkprinzip des Romans. Er greift nach einem.

Eine Stärke des Romans ist tatsächlich die gute Lesbarkeit, die Erzählweise. Aber reicht das für einen guten Theatertext?

Sie interessiert die Frage nach Verdichtung, die sich im Theater auch als sprachliche Verdichtung zeigen kann. Auch Juli Zeh arbeitet mit Verdichtung. In „Unterleuten“ schaufelt sie unterschiedlichstes Material auf: Innere Reflexionen der Figuren, Dialoge, Kommentartexte, Atmosphären, den Wechsel zwischen Handlungs- und Naturbeschreibungen. Sie kommt der Realität auf viele verschiedene Arten und Weisen nahe. Auch das Theater kann ja sehr, sehr viel. Die Erfahrung lehrt: Man denkt zu eng, wenn man glaubt, ein Theatertext müsste feste Kriterien erfüllen, um „gut“ zu sein. Es gibt dichterische Texte, ganz profane, dialogisch-spannungsvolle Texte. Das Theater wird mit allem fertig, wenn es mit Hilfe eines Stoffes gelingt, eine wirkungsvolle Erzählung zu bauen. Dann ist eigentlich alles möglich und alles erlaubt.

Das Thema bestimmt die Form?

Form ist Inhalt und Inhalt ist Form – sagt Ruth Berghaus. Der Inhalt verlangt nach einer bestimmten Form, und die Form konstituiert Inhalt.

Und bestimmte Themen verlangen offenbar im Theater nach Romanen. Wenn man sich die zeitnahen Themen anschaut, kam man auch hier am Hans Otto Theater nicht an Romanadaptionen vorbei. „Der Turm“, „Der Eisvogel“ – letzterer ein wichtiger Stoff, den Sie selbst für die Bühne bearbeitet haben. Jetzt wieder das Thema sozialer Krieg als Romanadaption.

Das Theater hat große Taschen. Dem Theater und der Kunst überhaupt ist alles Stoff, die ganze Realität draußen, und auch Stoffe sind Stoff, wenn es möglich ist, darüber die Welt zu reflektieren. Die verschiedenen Genres bringen eigene Blickweisen auf Realität ins Spiel, die für das Theater sehr interessant sein können. Der große Vorteil von epischen Stoffen ist, dass sie leicht Perspektiven wechseln und eine große Zeitspanne abbilden können. Der Roman kann den Zeitstrahl von Damals über Heute bis ins Unendliche führen. Das Theater kann davon lernen.

Zurück zu dem Stück, das heute Premiere feiert: Was von dem Brandenburg, das Sie seit 2009 hier kennengelernt haben, haben Sie persönlich in „Unterleuten“ wiedergefunden – jenseits der großen, gesamt-gesellschaftlichen Themen?

Mein persönlicher Blick ist nicht der Maßstab der Stoffwahl. Unser Blick ist der von Künstlern an einem Ort. Die Energie geht möglicherweise dahin, dass man Signale empfängt und beantwortet. Durch Stoffe, Veranstaltungsangebote und Gesprächsangebote. Wir arbeiten als Theaterleute für und an einem Ort. Wir versuchen, Möglichkeiten anzubieten, damit dieser Ort sich mit sich selbst verständigen kann. Hier gibt es eine sehr große Aufmerksamkeit für Stoffe – Stoffe, die über die eigene Lebenswirklichkeiten erzählen, über brennende Fragestellungen nachdenken. Ein großes Zugehen auf das Theater in Form von Interesse an Themen und Inhalten. Ein großes Interesse auch an einer direkten Begegnung mit den Schauspielerinnen und Schauspielern des Hauses und den Regisseuren. Das ist etwas, was uns sehr bestärkt und inspiriert.

Das wäre dann sehr weit weg von dem Brandenburg, das uns Juli Zeh zeigt – wenn man verallgemeinern wollte, würde man sagen: Bei ihr sind die Brandenburger eher verschlossen, grummelig, Neuem gegenüber nicht besonders offen. Das Potsdamer Publikum mag offen sein, ist Ihnen aber programmatisch nicht in allem gefolgt. Ich denke etwa an „Das schwarze Wasser“ von Roland Schimmelpfennig, ein wichtiger zeitgenössischer Text, der recht schnell wieder weg war vom Spielplan.

Mit „Unterleuten“ hat das nicht unmittelbar zu tun.

Dann gehen wir einen Schritt weg von „Unterleuten“.

Was ist dann Ihre Frage?

Mich interessiert, wie Sie das Potsdamer Publikum wahrgenommen haben. Und ob es darüber tatsächlich nur zu sagen gibt, dass es immer neugierig auf Ihre Themenvorschläge war. Anders gefragt: Wenn Sie Ihrem Spielplan dieser letzten Spielzeit noch ein Stück hinzufügen könnten, um Potsdam den Spiegel vorzuhalten, welches Stück wäre das?

Ich habe Theater nie als ein Medium verstanden, um Zuschauern einen Spiegel vorzuhalten. Sondern immer als Gesprächsangebot. Ein Angebot, gemeinsam nachzudenken. Die Vorstellung von Kunst als „Spiegel“ ist mir komplett fremd.

Der Gedanke, dass man sich selbst mit Abstand besser sieht, ist Ihnen fremd?

Die Idee ist mir fremd, dass jemand anderer besser wissen soll, wer man ist; dass einer dem anderen einen Spiegel vorhält, damit der es selbst auch versteht. Sich gegenseitig zu sehen, funktioniert nicht, indem man einander den Spiegel vorhält. Sondern indem man gemeinsam Erfahrungen macht. Gemeinsam über Dinge nachdenkt. Wir sind ja nicht im Besitz der Wahrheit. Das ist auch das Tolle an dem Roman von Juli Zeh. Hier ist niemand im Besitz der Wahrheit. Man erfährt, dass Wahrheit Konstruktion ist.

Und je nachdem, wer sie erzählt, lautet sie immer anders?

Genau, denn man kann eine Erfahrung nicht gegen die andere halten. Man kann sie nur nebeneinanderlegen, dann entsteht vielleicht ein Bild, ein Zusammenhang. Das ist etwas, was Kunst kann. Jede Figur in „Unterleuten“ konstruiert ihre eigene Wahrheit, hat ihre eigene Sicht auf die Dinge. Und als Leser ist man aufgefordert, dazu Haltung zu beziehen; das, was man gedacht hat, immer wieder zu revidieren. Immer wieder neu anzusetzen. Das ist das Potenzial von Kunst. Es gibt keine einzelne Wahrheit, niemanden, der den Spiegel halten könnte.

Sie und Tobias Wellemeyer arbeiten seit 17 Jahren zusammen. Was muss gut zwischen Dramaturgie und Regisseur funktionieren, damit das so lange so gut zusammenhält?

Eigentlich alles, was zwischen allen Menschen funktioniert, damit es zusammenhält. Das hat mit der Sparte, in der man beruflich tätig ist, gar nichts zu tun. Gemeinsame Maßstäbe, Vertrauen, Aufrichtigkeit, Interesse, Kommunikation, Freundlichkeit. Integrität.

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