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Schriftsteller Tobias Schwartz.

© Wolfgang Vogler

Interview mit Tobias Schwartz: „Das Provinzielle findet man überall“

Autor Tobias Schwartz spricht über seinen aktuellen Roman "Nordwestwärts", Geburten, den Begriff Heimat und die Kraft von Literatur.

Von Sarah Kugler

Herr Schwartz, Ihr aktueller Roman „Nordwestwärts“ beginnt mit einer beeindruckend detailreichen Geburtsszene, die sich fast über 100 Seiten zieht. Das liest man nicht oft.
 

Ja, noch dazu von einem männlichen Autor, nicht wahr?

Auch das. Was hat Sie dazu bewogen, darüber zu schreiben?

Ich war bei zwei Hausgeburten dabei und habe vorher auch die Schwangerschaften intensiv verfolgt. Das sind existenzielle Situationen. Faszinierend auch. Ich habe die Passagen dann von meiner Frau lesen lassen und es wurde erstaunlich wenig geändert.

Sie scheinen in ihrem Buch viele Themen aufzunehmen, die in der Literatur gerade im Trend liegen: Mutterschaft, generationenübergreifende Geschichte, die Suche nach der Heimat auf dem Land.

Ehrlich gesagt, als ich im Frühjahr 2015 mit dem Schreiben angefangen habe, ahnte ich von all dem nichts. Aber Dorfromane und Familien- oder Generationenromane hat es immer schon gegeben. Meine Motivation ging von dem speziellen Ort Emlichheim an der holländischen Grenze aus, von dessen Kuriositäten.

Die da wären?

Da gibt es Europas wohl größte Kartoffelstärkefabrik, überhaupt die Kartoffel, die die Landschaft prägt und letztlich durch Friedrich II. dorthin gelangt ist. Dann vier Kirchen unterschiedlicher Konfession. Oder die Tatsache, dass ein Drittel der Bewohner Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten oder deren Nachfahren sind. Zudem existiert eine Studie über ein erhöhtes Brustkrebsvorkommen in der Region, das auf einen eingeschränkten Genpool, sprich Inzest, zurückzuführen ist.

Was sagen denn die Bewohner Emlichheims dazu, dass Sie all das literarisch verarbeiten?

Das Buch polarisiert, das wurde mir mehrfach kolportiert. Viele Menschen sind begeistert, auch berührt und sehen meinen Roman als Hommage. Andere sehen ihn als Abrechnung. Auch darüber habe ich beim Schreiben nicht nachgedacht, aber ich freue mich jetzt über die vielen freudigen Reaktionen, die mich erreichen.

Nun ist der Dorfroman ja tatsächlich im Trend. Warum ist das Ihrer Meinung so?

Das Thema Herkunft spielt in der Literatur immer schon eine große Rolle. Immer mehr Menschen zieht es vom Land in die Stadt, aber das Dorf, die Heimat, ist ja nicht weg, die bleibt in den Köpfen. Hinzu kommt die wachsende Sehnsucht nach der Natur, zumal, da sie bedroht ist. Ich lebe seit 1997 in Berlin und je älter ich werde, desto mehr sehne ich mich nach Land und Garten.

Also geht es gar nicht um Heimat per se?

Doch, auch das. Gerade jetzt, da unsere Gesellschaft durch Flüchtlinge mancherorts neu durchmischt wird, macht man sich viel mehr Gedanken über den Begriff. Nicht nur zum Guten, wie man leider allzu oft sieht.

Sie zeigen in Ihrem Roman eine historische Parallele: Die Großmutter des Protagonisten muss nach dem Zweiten Weltkrieg flüchten und wird in Emlichheim nicht gerade wohlwollend aufgenommen.

Ja genau, die Flüchtlinge wurden schon damals gehasst – auch Davids Oma. Dabei waren sie es, die die Wirtschaft angekurbelt, die Wissen und Kultur mitgebracht haben. Auch damals hat sich die Gesellschaft durchmischt, mit positiven Folgen. Da spiegelt sich viel Heutiges und wirft Fragen auf. Ich bin der Überzeugung, dass Literatur helfen kann, Menschen zum Nachdenken anzuregen.

Glauben Sie wirklich, dass die Leute, die mehr darüber nachdenken sollten, zu Ihrem Buch greifen?

Vielleicht hilft hier der Heimatbegriff, wobei „Nordwestwärts“ mindestens so sehr ein Anti-Heimatroman ist wie ein Heimatroman. Aber Heimat ist erst einmal ein Stichwort, das interessant ist, das Leute ansprechen könnte, auch solche, die etwas enger denken.

In Ihrem Roman spielen Friedrich II. und Napoleon immer wieder eine Rolle. Auch sie dienen manch einem als Identifikationen. Was fasziniert Sie an den beiden Figuren?

Zum einen finde ich grundsätzlich, dass man sich mit Geschichte beschäftigen sollte – schon, um keinen Klitterungen aufzusitzen. Mich fasziniert das Ambivalente beider Figuren, Kriegstreiber auf der einen Seite, liberale Geister auf der anderen. Beide haben die Historie bis heute geprägt. Und dann interessiert mich speziell Potsdams Kulturgeschichte, die Kartoffelmythen, die letztlich bis nach Emlichheim führen.

Ihr Protagonist David ist ein Potsdamer Arzt, sie selbst leben in Berlin. Ist Potsdam schon Provinz für Sie?

Nein. Ich habe viel Zeit in Potsdam verbracht, mein Sohn wurde hier geboren. Andererseits findet man das Provinzielle doch überall, zumal in Berlin, in den Kiezen, aber auch im Kulturbetrieb. Ich war kürzlich bei der Premiere von Frank Castorfs Verdi-Inszenierung an der Deutschen Oper, ein eher langweiliger, mitnichten provokanter Abend. Da saß ein Mann neben mir, der extra eine Trillerpfeife mitgebracht hatte, um das Ganze auszupfeifen. Schon peinlich. So etwas habe ich im Hans Otto Theater noch nie erlebt.

Ihre eigenen Stücke sind hier schon aufgeführt worden, auch „Nordwestwärts“ beginnt wie ein Theaterstück: Mit vielen zur Geburtsszene parallel laufenden Bildern.

Mit Theater hat das weniger zu tun. Man könnte es eher filmisch nennen, aber letztlich ist das Aufbrechen linearer Erzählweisen nichts Ungewöhnliches, jedenfalls nicht seit der Moderne – siehe etwa Virginia Woolf, die ich sehr bewundere. Mir ging es um ein Panorama-Bild, in dem viele Zeiten, Figuren und Perspektiven enthalten sind.

Sie sind heute im Literaturladen Wist zu Gast, in dem die Lesungen speziell, ja Performance ähnlich inszeniert werden.

(lacht) Ja, das war mir vor meiner ersten Lesung dort gar nicht so klar. Aber jetzt bin ich vorbereitet und freue mich sehr darauf. Außerdem habe ich Verstärkung dabei, Schauspielerin Franziska Melzer wird mitlesen.

>>Lesung am 16. September um 19 Uhr im Literaturladen Wist, Dortustraße 17

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