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Helga Flatland.

© Niklas Lello/promo

Helga Flatlands Roman „Eine moderne Familie“: Egozentrische Wahrheiten

Die norwegische Autorin Helga Flatland war zu Gast im Potsdamer Literaturladen Wist und stellte ihren aktuellen Roman „Eine moderne Familie“ vor.

Von Birte Förster

Potsdam - Seit Olga Tokarczuk ist alles anders. Gewissermaßen hat für den Literaturladen Wist eine neue Zeitrechnung begonnen. So zelebrierten die beiden Buchhändler Carsten Wist und Felix Palent am Mittwochabend jenen gepolsterten Stuhl, auf dem bei einer Lesung genau zwei Wochen zuvor die neue Literaturnobelpreisträgerin weilte. Sie hoben das gute Stück wie einen Thron über ihre Köpfe und beförderten es an den angestammten Platz. Dazu ertönte Rockmusik aus Norwegen, leitete so die Lesung des neuen Gastes ein: Die norwegische Autorin Helga Flatland durfte sich auf dem Ehrenplatz niederlassen, um ihren Roman „Eine moderne Familie“ vorzustellen. Nach Johan Harstad und Tomas Espedal ist sie die erste Frauenstimme aus Norwegen, die einer Einladung der Potsdamer Buchhändler folgt. Begleitet wurde die Autorin von Elke Ranzinger, die das Werk ins Deutsche übersetzt hat.

Mit ihrem Roman taucht Flatland tief in das Beziehungskonstrukt einer ganzen Familie ein. Alles gerät ins Wanken, als die Eltern während einer Italienreise, bei der Feier zum 70. Geburtstag des Vaters, ihre Scheidung verkünden. Obwohl gar nicht geplant, platzt die Nachricht durch die angespannte Stimmung während der Feier heraus – und hat im Anschluss Einfluss auf das gesamte Familiengefüge. Die drei erwachsenen Kinder Liv, Ellen und Hakon beschreiben in dem, in mehrere Abschnitte unterteilten Roman jeweils aus ihrer Perspektive, was die Trennung der Eltern für sie und ihr eigenes Leben bedeutet.

Existiert überhaupt die eine Wahrheit?

Dass sie den Roman aus der Ich-Perspektive schreiben wollte, habe für sie von Anfang an festgestanden, sagte Flatland. Das unterschiedliche Erleben ein und derselben Situation interessierte die Autorin sowie das Unvermögen, sich von seiner eigenen Persönlichkeit frei machen zu können. Im Zentrum stand die Frage: „Wem gehört die Wahrheit?“ Aber die eine Wahrheit gebe es eben nicht, meinte die 35-jährige Autorin am Mittwoch.

Sehr von ihrer Weltsicht überzeugt sind dennoch die drei Protagonisten. Für die 40-jährige Liv, die Älteste der drei Geschwister, bricht mit der Scheidung der Eltern eine Welt zusammen. In der Stabilität der elterlichen Beziehung hat sie immer ein Vorbild für die Ehe mit ihrem Mann Olaf gesehen. Liv geht zunächst auf Distanz zu ihren Eltern und Geschwistern. Die 38-jährige Ellen hingegen ist völlig mit ihrem Kinderwunsch beschäftigt, wird immer verzweifelter, als alle Versuche scheitern. 

„Menschen in der Krise werden egozentrisch.“

Der 30-jährige Hakon ist von der neuen Familienkonstellation zunächst kaum berührt und hält die Monogamie als Beziehungsmodell ohnehin für fragwürdig. Jeder Einzelne scheint sich im Kreis zu drehen, ständig wird analysiert, dramatisiert und unterstellt. Manchmal strengt es an, dabei zuzuschauen, wie unter Dauerstrom ein Gedanke den anderen jagt. „Menschen in der Krise werden egozentrisch“, erklärte die Autorin. Sie würden sich vor allem fragen, wie etwas auf sie selbst wirke, nicht wie auf die Anderen. So schafften sie es, immer weniger zu kommunizieren.

Die Autorin hat sich intensiv mit realen Familien beschäftigt, thematisiert in ihrem Roman die Rolle, die jeder in diesem komplexen Konstrukt einnimmt, auch Geschwister untereinander. Sie interessiere sich für Menschen, beobachte sehr genau, sagte Flatland. So sehr, dass sich der ein oder andere in dem Roman wiederfindet. Eine Frau aus dem Publikum erklärte, welcher Gedanke ihr beim Lesen gekommen sei: „Woher kennt sie meine Familie?“  

— Helga Flatland: Eine moderne Familie. Weidle Verlag, 2019, 308 Seiten, 25 Euro.

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