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Wie fühlt sich Potsdam an? Das kann man bei der Stadtraum-Performance "Fremdgehen" von Sabine Zahn selbst ergründen.

© Andrea Keiz

Fremdgehen bei den Potsdamer Tanztagen: „Wie fühlt sich deine Stadt an?“

Bei den Potsdamer Tanztagen kann man „fremdgehen“ und der Stadt mit allen Sinnen neu begegnen. Wie fühlt sich das an? Ein Selbstversuch.

Potsdam - Normalerweise würde ich hier auf der Verkehrsinsel - eingerahmt von drei Straßen und von Glascontainern - niemals sitzen. Doch die Potsdamer Tanztage mussten sich bekanntlich wegen Corona schon im April von der Normalität verabschieden. Und haben für ihre Interimsausgabe gleich mehrere ungewöhnliche Formate im Angebot. „Fremdgehen – eine choreografische Stadterweiterung“ der Berliner Choreografin Sabine Zahn ist eins von ihnen.

Auf der Verkehrsinsel in der Yorkstraße höre ich als erstes die Geräusche des gerade abklingenden Feierabendverkehrs: An- und abfahrende Autos, zwei Männer mit Pizzakartons auf den Händen rufen einem dritten über die Kreuzung etwas zu, aus einem Autoradio klingt scheppernd, wahrscheinlich türkische Musik. Und in der Rotphase, in der einen Moment lang kein Auto dort steht, auf einmal wohltuende Stille und lautes Vogelgezwitscher – mitten in der Landeshauptstadt.

Die eigentliche Performance: alle Sinne benutzen

Der britische Künstler Daniel Belasco Rogers hat mich hier empfangen und mir geraten, in der kommenden Stunde alle meine Sinne zu benutzen, denn dies sei die eigentliche Performance, die in insgesamt  32 Einzelführungen während der Tanztage bis zum 16. August exklusiv eins zu eins stattfindet.

Jetzt gehen wir weiter in Richtung Filmmuseum. Aus den Mülltonnen am Weg stinkt es wie sonst in der Sommerhitze in südlichen Ländern, wenig später kitzelt duftender Lavendel meine Sinne. Von vorn ertönt schrill eine Notarzt-Sirene. Und unter dem Baugerüst liegen jede Menge Fastfood-Verpackungen, Unkraut wuchert am Straßenrand. Erst jetzt realisiere ich, dass der Rohbau gegenüber dem Achteckhaus bereits hochgezogen ist.

Architektur soll ertastet, erfühlt, erfahren werden

Die Synagoge hingegen wartet schon lange auf den nächsten Spatenstich. Wir steigen direkt in die Baugrube. Gelbe Königskerzen, blauer Natternkopf und weiße Schafgarben haben das unwirtliche Terrain besiedelt. Bei deren zauberhaftem Anblick mich dennoch ein seltsames Gefühl beschleicht. Wie war das mit dem „Gras darüber wachsen lassen“ wirklich gemeint?

Einen Hauch von Geschichte erspüre ich auch hinter dem Filmmuseum. Wir stehen unter respektive hinter dem mächtigen Umhang  des preußischen Offiziers Friedrich Wilhelm von Steuben. Bei „Fremdgehen“ geht es um das Ertasten, Erfühlen, Erfahren von Architektur – und die Frage „Wie fühlt sich deine Stadt an?“, die Daniel mir kurz darauf auch stellt. 

Allgegenwärtiges Grün und ein beinahe gewalttätiger Verkehr

Was macht das mit deinem Körper? Fragt er weiter, als ich die stadtprägenden Sichtachsen und die vielen Ecken und Kanten Potsdams beschreibe. Dazwischen eine kurze Selbst-Vergewisserung: Vor allem das viele Wasser und das allgegenwärtige Grün lassen mich hier schon fast drei Jahrzehnte leben.

Auch der Verkehr auf der Breiten Straße ist im Fluss. Mir ist er zu laut, beinahe gewalttätig. Schnell weg. Das geht nicht, wenn wir beide nebeneinander rückwärtsgehen. Wenig später sitzen wir an der Kreuzung Dortustraße – den verhüllten Sockel der Garnisonkirche, der sich in seiner klotzigen Präsenz massiv gegen das Rechenzentrum drückt, im Blick. Daniel erzählt mir, dass nach der Fertigstellung ihres Vorgängerbaus 1722 schräg gegenüber der Grundstein für die Königliche Preußische Gewehrfabrique gelegt wurde.

Aus Fritz Eisels Mosaik tönt Musik

Am Rechenzentrum mit dem Militärwaisenhaus im Rücken zeigt er mir einen versteckten Lichtschalter und macht Licht. Und nicht nur das. Das Mosaik von Fritz Eisel besteht außer dem berühmten Glasmosaik auch aus Gittern mit vorgelagerten, quadratischen, blaugesprenkelten Emaille-Platten. Wenn ich mein Ohr an eine von ihnen lege, höre ich eine Tonfolge, die Daniel gerade auf denen daneben improvisiert.

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Nach diesem verblüffenden „Fremdgehen“ bin ich angefüllt mit vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Emotionen. Und werde von jetzt an mit noch wacheren Sinnen durch Potsdam gehen.

"Fremdgehen", bis 15.8. im Rahmen der Potsdamer Tanztage

Astrid Priebs-Tröger

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