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Die Fontane-Büste vor dem Potsdamer Theodor-Fontane-Archiv.

© Ottmar Winter

Fontane-Forschung in Potsdam: Effis Ängstlichkeitsprovinzen

Beim „ Hackathon“ des Theodor-Fontane-Archivs wurde Literatur mit Hilfe von Algorithmen analysiert.

Potsdam - Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ als Kurve? Joseph Roths „Radetzkymarsch“ als Landkarte? Oder Thomas Manns „Buddenbrooks“ als Stammbaum? Die Annäherung an literarische Werke mit Hilfe abstrakter Modelle entwickelte sich nicht zuletzt durch die Bücher des italienischen Literaturwissenschaftlers Franco Moretti zu einer populären Methode, um komplexe thematische Bezüge und personale Verflechtungen anschaulich zu machen – und tatsächlich, so Moretti, ist es heute, den technischen Möglichkeiten und entsprechenden Computerprogrammen sei Dank, leichter denn je, in kürzester Zeit quantitative Analysen unzähliger Seiten vorzunehmen und Aufgaben zu übernehmen, für die vor Jahren noch Bataillone wissenschaftlicher Hilfskräfte notwendig gewesen wären: Wörter zählen, Sprachstile analysieren, Redeanteile auswerten. Moretti nennt dies „Distant Reading“: das Lesen von Literatur anhand ihrer quantitativ belegbaren Fakten.

Einen solchen Ansatz wählten nun auch Forscherteams um den Leiter des Theodor-Fontane-Archivs und Professor an der Universität Potsdam Peer Trilcke in einem mehrtägigen Workshop in der Villa Quandt. In den historischen Mauern, die auch das Fontane-Archiv beheimaten, analysierten sie die Romane und Wanderungen Fontanes mittels Algorithmen und untersuchten etwa das Pendeln der Figuren Fontanes zwischen bürgerlicher und adeliger Welt, zwischen liberalen und konservativen Wertvorstellungen, aber auch, wie die Figuren ihre Welt sinnlich wahrnehmen. Die Ergebnisse wurden am Samstagnachmittag in der Villa Quandt präsentiert.

Fontanes Figuren erfahren die Welt optisch und akustisch

So erstellten die Forscher aus Potsdam, Basel, Stuttgart, Göttingen und Moskau Plakate, die Fontanes Wirken in Grafiken aufarbeiten und damit präzise belegen, was beispielsweise über „Effi Briest“ schon lang vermutet, von der Melusine im „Stechlin“ aber nicht erwartet wurde: so erscheint Letztere zwar progressiv, bewegt sich aber – betrachtet man ihre Wortwahl – in einem eher aristokratisch-konservativen Cluster, wohingegen Effis Welt sich hauptsächlich um die Liebe dreht. Auf einem anderen Plakat präsentieren die Forscher „Die 500 längsten einzigartigen Substantive bei Fontane“, die Auskunft über das poetische Potenzial Fontanes geben: darunter Worte wie „Ängstlichkeitsprovinzen“, „Gemütlichkeitsrangliste“, „Pfefferkuchengegend“ und „Weltverbessungerungsleidenschaft“.

Auch schlüsselten die Wissenschaftler auf, welche Wahrnehmungsverben Fontane am häufigsten gebraucht und wie demnach seine Figuren ihre Welt erfahren – zum überwiegenden Teil nämlich optisch und akustisch, dagegen aber kaum olfaktorisch. In all ihrer Informativität können die Analysen der wissenschaftlichen Teams, die in Rekordzeit unüberschaubare Mengen literarischen Materials untersuchten, dabei nur den Anstoß geben zu einer weitergehenden Beschäftigung mit dem Material, die dann die Brücke von den reinen Zahlen zur qualitativen Betrachtung schlagen kann.

Weltliteratur als Kartenspiel

Besonders im Gedächtnis bleibt die Präsentation des Informatikers und Literaturwissenschaftlers Frank Fischer, der in Moskau lehrt. Fischer, der sich auf eine Prämisse des 2014 verstorbenen Publizisten und Mitherausgebers der FAZ, Frank Schirrmacher, bezieht, sagt, dass es notwendig sei „die Algorithmen in Narrative zu übersetzen“, um sie auf diese Art und Weise verständlich zu machen. 

Er präsentiert ein Kartenspiel, dass die Netzwerkdynamiken der wesentlichen Werke der Weltliteratur aufschlüsselt, sie miteinander vergleichbar und so auf spielerische Art und Weise Literatur erfahrbar macht.

Christoph H. Winter

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