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Gewann 2011 mit seinem Debüt den Deutschen Buchpreis. Der Berliner Schriftsteller und Regisseur Eugen Ruge, 65.

© Frank Zauritz/Verlag

Eugen Ruge deckt Familiengeheimnisse auf: Meine Großmutter, die Klassenkämpferin und Spionin

Der preisgekrönte Autor Eugen Ruge legt mit dem biografischen Roman „Metropol“ ein atemberaubendes Stück Zeitgeschichte vor.

Schon der Prolog ist unheimlich. Der Autor und Rechercheur Eugen Ruge betritt, bevor die eigentliche Geschichte seines biografischen Romans „Metropol“ beginnt, das „Russische Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte“.

Dort war einst das Moskauer Institut für Marxismus-Leninismus untergebracht. Die Namensgeber hängen noch als Bronzereliefs über dem Eingang, als Erinnerung und Warnung gleichermaßen.

Die kafkaeske Welt im Gebäude scheint sich nicht geändert zu haben. Es öffnen sich immer wieder neue Türen, es geht durch lange Gänge, vorbei an Wachhäuschen mit grimmig dreinschauenden Polizisten.

Viele Formulare müssen ausgefüllt, Gebühren bezahlt werden, damit Ruge endlich zu den Schließfächern gelangt, in denen Dokumente zu geheimen und geheimnisvollen Lebensläufen lagern.

„Dies ist die Geschichte, die du nicht erzählt hast. Du hast sie mit ins Grab genommen. Du warst sicher, dass sie niemals wieder ans Licht kommt. Du hast dein Leben lang daran gearbeitet, sie vergessen zu machen, sie zu löschen, aus deinem, aus unserem Gedächtnis. Fast ist es dir gelungen.“

Er nannte sie als Kind die „mexikanische Großmutter“

Eugen Ruge spricht seine Großmutter Charlotte direkt an. Der emotionale und anklagende Tonfall irritiert, etabliert aber eine Spannung, die bei einer biografisch-historischen Erkundung ungewohnt ist. Jetzt möchte man wirklich erfahren, was die Frau jahrzehntelang verheimlicht hat und nun den Enkelsohn so empört.

Von der Mutter seines Vaters wusste Ruge offenbar nicht viel. Nur dass sie eine Kommunistin gewesen ist, dass sie gerne von Mexiko erzählt hat und deshalb vom kleinen Eugen auch „mexikanische Großmutter“ genannt wurde.

Aber was sie in den 1930er-Jahren in Moskau erlebte, blieb ein Geheimnis, das Ruge erst Jahre nach ihrem Tod lüften konnte, als er nämlich die entscheidenden Papiere einsehen und kopieren durfte.

„Ich sehe was, was du nicht siehst. Das Spiel hast du mir beigebracht. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist: Deine Kaderakte, Charlotte.“

Und in dieser Akte ist nachzulesen, dass Ruges Großmutter, die als Kommunistin vor den Nazis in die Sowjetunion geflohen war, unter dem Decknamen Lotte Germaine für den Geheimdienst der Komintern gearbeitet hat.

[Eugen Ruge: Metropol Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 431 Seiten, 24 €.]

Dass die internationale Vereinigung der kommunistischen Parteien überhaupt einen eigenen Spitzeldienst betrieben hat, ist schon seltsam genug, mag aber einleuchten, wenn man bedenkt, dass die Kämpfer für eine klassenlose Gesellschaft in vielen Ländern aus der Illegalität heraus operieren mussten und auf Konspiration angewiesen waren.

Die Schaltzentrale der „Abteilung für internationale Verbindungen“, die unter dem Kürzel OMS bekannt war, war in einem Gebäude außerhalb von Moskaus Stadtzentrum versteckt. „Punkt zwei“ hieß die gut getarnte Spionage-Abteilung, die weltweit revolutionäre Bewegungen unterstützte und über die bis heute nur wenig bekannt ist.

Hier hat auch Charlotte gearbeitet, wie aus den 246 durchnummerierten Seiten ihrer Kaderakte hervorgeht. Einige Blätter sind in Ruges Buch abgedruckt, und sie berichten nicht nur von der Rolle der Großmutter im Geheimdienst.

Sie geben auch Auskunft über die internen Streitereien der Organisation, über den irren Zwang, auch die eigenen Mitstreiter ständig zu bespitzeln und zu denunzieren.

Mischung aus historischen Dokumenten und biografischer Erzählung

Zu den unfassbaren Details gehört eine Selbstanzeige Charlottes. Sie kannte einen Mann mit dem Decknamen Alexander Emel, der bei einem der ersten Moskauer Schauprozesse auf der Anklagebank saß – was einem Todesurteil gleichkam.

Um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, sie habe mit dem Verurteilten gemeinsame Sache gemacht, schickt Charlotte einen vierseitigen Brief an die Parteileitung, der vollständig in „Metropol“ nachzulesen ist.

Er endet mit diesen Zeilen: „Ich muss sagen, dass es mir ganz unmöglich war, hinter seine glatte Doppelzüngigkeit zu kommen. Aber ich will die Lehre daraus ziehen, dass erstens ein Parteiarbeiter in der Auswahl seiner persönlichen Bekannten größeres Misstrauen walten lassen muss, und zweitens, dass ich viel ernsthafter und gründlicher die Geschichte der Bolschewistischen Partei studieren muss, um dadurch meine Klassenwachsamkeit auf ein höheres Niveau zu heben.“

Geschickt mischt Ruge die historischen Dokumente mit der biografischen Erzählung, in der Charlotte den ehemaligen Mitstreiter keineswegs für einen Verbrecher und Verräter hält.

Charlottes Beweggründe werden plausibel geschildert

Die Montage ist auch deshalb so kunst- und wirkungsvoll, weil sich der Erzähler in den fiktiven Passagen längst vom Groll des Prologs gelöst hat und sich seinen Figuren empathisch nähert. Charlottes Beweggründe werden plausibel geschildert, aber auch die Zweifel und Ängste der anderen zeithistorisch relevanten Personen sind anschaulich beschrieben.

Während die Säuberungen unberechenbar werden, während der große Terror „wie eine Naturgewalt“ wütet, müssen Charlotte und ihr Mann Wilhelm auf Anweisung der Komintern in ein Hotel umziehen. Das Metropol ist eine „ausladende Jugendstilschönheit im Herzen der Stadt“, über die sich die Gäste aber kaum erfreuen können.

Das Hotel lebt zunehmend von Dauerbewohnern, die für eine Übergangszeit einen Schlafplatz benötigen. Das können Leute wie der Schauprozess-Richter Wassili Wassiljewitsch sein oder Genossen, die in Ungnade gefallen sind und deren Schicksal unklar ist.

Charlottes Mann Wilhelm jedenfalls ist vom Dienst schon suspendiert worden. Die Waffe musste er abgeben, was für einen stolzen Spitzel, der in Deutschland mit militanten Aktionen betraut war, ein Schock ist.

Es folgt eine Welle wahnhafter Selbstkritik, und bei der Lektüre stellt sich auch die Frage, was grotesker ist: die überlieferten Dokumente? Oder Ruges biografische Fiktionen, die doch so realistisch erscheinen?

Besonders deutlich, weil vollkommen bizarr, wird das in den inneren Monologen von Hilde Tal, einer überzeugten Klassenkämpferin und Spionin, die ebenfalls im Hotel Metropol untergebracht ist.

Hilde Tal mag nicht einsehen, dass die Massenverhaftungen im Sinne der Revolution seien, also beschließt sie an höchster Stelle nachzufragen, vielleicht hat ja Stalin eine Erklärung für die vielen Exekutionen, die doch nur dem Feind nutzen.

Aber wie kann sie das dem obersten Genossen erklären, ohne seinen Kurs in Frage zu stellen? Wie soll sie sich überhaupt vorstellen? Tagelang formuliert sie in Gedanken, wie sie ein Telefonat beginnen würde.

Sie bekommt Kopfschmerzen vom Grübeln, Fieber, und es ist nicht ganz klar, ob die Körpertemperatur schon wieder gesunken ist, als sie meint, die richtigen Worte für den Einstieg in ein Gespräch mit Stalin gefunden zu haben

„Ich habe getötet. Mit eigenen Händen. Ich habe Menschen exekutiert. Ich begreife sehr wohl, dass die Revolution kein Spaziergang ist. Ich habe kein Mitleid mit Verrätern. Ich befürworte vorbehaltlos die Säuberung der Partei.“

Die Tschekisten schlagen zu

Dann klopft es auch an ihrer Tür und Hilde Tal weiß sofort, dass sie nun verhaftet wird. Auch in anderen Zimmern geht die Angst um, wenn früh morgens die Schergen des NKWD auf den Hotelfluren herummarschieren.

So fremd die Ansichten, so abstoßend die Handlungen der Figuren zuvor gewesen sein mochten, wenn die Tschekisten zuschlagen, steht Eugen Ruge auf Seiten der Menschen, denen Unrecht widerfährt. Ohne Pathos oder Besserwisserei. Ohne die sprachlich große Geste.

Ruge, darin erkennt man seine literarische Kunst, findet für seine Szenen stets die richtige Tonlage. Seine Familiengeschichte ist leidvoll mit den historischen Umbrüchen und dem politischen Terror im 20. Jahrhundert verbunden.

Ruges Vater kam in den Gulag

So wundert es nicht, dass er diese Geschichte erneut zum Thema eines Romans macht. Sein Vater, der DDR-Historiker Wolfgang Ruge, floh als junger Mann vor den Nazis in die Sowjetunion, wurde nach dem Angriff des NS-Regimes aber wegen seiner deutschen Herkunft erst nach Sibirien und dann in ein Straflager des Gulags in den Nordural deportiert.

Dort wurde 1954 sein Sohn Eugen geboren, der im Alter von zwei Jahren zusammen mit den Eltern nach Ost-Berlin ausreisen konnte. All das hat Ruge in dem Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ erzählt. Mit „Metropol“ knüpft er daran nun fulminant an.

477 Tage müssen Charlotte und ihr Mann im Metropol ausharren, und wie die Geschichte für sie ausgeht, wird an dieser Stelle nicht verraten.

Denn der Roman ist ein Pageturner, selbst wenn er sich nicht auf das Spannungsmoment reduzieren lässt. Ruges Roman ist ein atemberaubendes Stück Zeitgeschichte – und auch ein Lehrstück über Loyalität und Verrat in Zeiten der Diktatur.

Die gewählte Form der biografischen Fiktion überzeugt, weil hier die Literatur der historischen Wahrheit näher zu kommen vermag als die bloßen Informationen aus den Archiven, die wiederum diesen großen Roman erst möglich gemacht haben.

Carsten Otte

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