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Dorothee Oberlinger kann nicht nur flöten und dirigieren, sondern sie singt und blökt auch mal während der Proben.

© Ottmar Winter

Ein Probenbesuch bei Dorothee Oberlinger: „Es herrscht Aufbruchstimmung“

Flötistin, Dirigentin, Musikfestspielleiterin: Dorothee Oberlinger jongliert viele Rollen - und zeigt keine Spur von Coronamüdigkeit.

Potsdam - Dorothee Oberlinger, die Frau der vielen Facetten: Sie spielt nicht nur Flöte und leitet Potsdams größtes Musikfestival. Sie dirigiert auch – und wer das Glück hat, sie bei einer musikalischen Probe beobachten zu dürfen, weiß: Manchmal singt sie sogar. Wenn es gilt, aus Poponcino, dem Schäfer mit dem schönen Po in der Oper „Die wundersamen Wirkungen der Mutter Natur“, dessen Seele als komischer Buffo herauszukitzeln – dann kann Dorothee Oberlinger auch blöken.

„Das sind schon sehr arbeitsame Monate“, sagt Dorothee Oberlinger nach der Probe im Schlosstheater des Neuen Palais. „Aber mich reizt diese Diversität total.“ Giuseppe Scarlattis „Die wundersamen Wirkungen der Mutter Natur“ ist eine von fünf Opern, die bei den diesjährigen Musikfestspielen Premiere feiern werden. Zwei davon im Schlosstheater, wo Oberlinger zufolge „italienisches Feuer auf französische Eleganz knallt“. 2021 konnte sie den exquisiten Mix bei den Festspielen bereits austesten – ebenfalls mit einer „Schäferoper“, aber von Georg Philipp Telemann: „Pastorelle en musique“.

Die Musikfestspiele dauern vom 10. bis 26. Juni.
Die Musikfestspiele dauern vom 10. bis 26. Juni.

© Ottmar Winter

Seit 2018 leitet die Flötistin Oberlinger die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. 2019 stellte sie sich hier erstmals als Dirigentin vor: mit Giovanni Bonocinis „Polifemo“ im Orangerieschloss von Sanssouci. Musikalisch sind die Aufführungen gelobt worden (für „Polifemo“ gab es den Opus-Klassik-Preis) – den Inszenierungen aber warfen die Kritiken zu viel Fassadentreue vor. Das soll mit „Die wundersamen Wirkungen der Mutter Natur“ nun offenbar anders werden: Emmanuel Mouret, ein Filmregisseur, den Oberlinger als „französischen Woody Allen“ beschreibt, wird den Stoff in die Welt heutiger Großraumbüros holen.

Oberlinger ist schnell bei grundsätzlichen Fragen

Und was für ein Stoff das ist! Eine Kasper-Hauser-Geschichte: Celidoro, der König von Mallorca, wird in einem Turm vor der Welt versteckt gehalten – weil ein anderer, falscher König es sich auf seinem Thron gemütlich gemacht hat. Celidoro aber entkommt, entdeckt die Welt, die Frauen, die Art und Weise, wie Regierung und Macht funktionieren. Und findet am Ende nicht nur seinen Platz (und seine Schäferin), sondern macht die Welt auch ein bisschen gerechter. „Er verbindet die Natur mit dem, was er gelernt hat“, sagt Oberlinger, und ist schnell bei grundsätzlichen Fragen. Bei Rousseau und dessen damals revolutionärem Ansatz, dass man Kinder als Kinder und nicht als kleine Erwachsene behandeln müsse. Und bei der Frage, was gesellschaftliche Normen überhaupt bringen – und der Gretchenfrage schlechthin: Ist der Mensch an sich gut oder böse?

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„Es ist an der Oberfläche ein lustiges Stück, aber es ist auch sehr viel Melancholie und Wahrheit drin“, sagt sie. Womöglich auch, was die Kasparhauserhaftigkeit der Menschen nach der Pandemie betrifft? Müssen wir nicht alle erst gewisse Funktionsweisen des Miteinanders erst wieder lernen – nach zwei Jahren in den Kellern des Homeoffice?

Eine Lesart, die Oberlinger nicht zurückweist, aber bei der Wahl des Stoffes keine Rolle spiele – als man sich dafür entschied, war von Corona noch keine Rede. Das gilt auch für das Thema der Musikfestspiele insgesamt: „Inseln“ lautet das, und passt im Jahr 2022 wie die Faust aufs covidmüde Auge. Dabei orientierte es sich ursprünglich an der geografischen Besonderheit Potsdams, den hiesigen Inseln und Halbinseln, auch an der historischen Sehnsucht nach Ferne, die die Preußenherrscher in ihren Schlössern und Parks auslebten. Die Pandemie erst gab diesem Fernweh, der Vereinzelung, eine weitere, hochaktuelle Dimension.

Von Coronamüdigkeit keine Spur

Vor einem Jahr, die Musikfestspiele waren zum zweiten Mal in Folge abgesagt worden, war Oberlingers Enttäuschung und auch verhaltene Wut über die Folgen der Pandemie deutlich spürbar gewesen. Es war das Jahr des 30. Festivaljubiläums. „Man muss wirklich aufpassen, dass man nicht deprimiert wird von der Situation“, hatte sie damals gesagt. Und über selbstständige Musiker:innen: „Viele schaffen das psychisch und finanziell nicht.“

Die Dorothee Oberlinger, die einem jetzt im Saal des Schlosstheaters gegenübersitzt, ist eine andere. Von Coronamüdigkeit, Enttäuschung, Erschöpfung keine Spur. „Das Ächzen war im letzten Jahr“, sagt auch der Dramaturg Carsten Hinrichs. Die Streamingkonzerte, mit denen das Festival 2021 retten wollte, was zu retten war, seien „ein Pfeifen aus dem letzten Loch“ gewesen.

Jetzt aber seien die Musiker:innen alle voller Energie, sagt Oberlinger: „Es herrscht eine Aufbruchstimmung.“ Viele hätten die Pandemie genutzt, um Neues auszuprobieren. Sie selbst hat den Regisseur Emmanuel Mouret auch während der Pandemie entdeckt, beim Filmegucken in der Arte-Mediathek.

Die Pandemie habe die Menschen wählerischer gemacht, sagen Dramaturg und Leiterin: „Mit Stangenware kann man in Potsdam nicht punkten.“ Scarlattis Oper ist das Gegenteil. Sie ist eine Seltenheit: eine Wiederentdeckung. Uraufgeführt 1751 in Venedig, mit einem Libretto von Goldoni, von Friedrich zwei nach Potsdam geholt – ins Schlosstheater. Damals war die Oper ein Hit, später vergessen. Ein Teil des Manuskripts lag in Wien, einer in Wolfenbüttel – für Potsdam wurden sie wieder zusammengeführt. „Eine archäologische Arbeit“, sagt Oberlinger. Im Resultat hört sie sogar Wiener Schmäh. Ernst und Buffa, alles mische sich hier aufs Schönste. Die Oper, „ein Comic“.

Und wenn der Potsdamer Musiksommer geschafft ist? Dann wird Dorothee Oberlinger auf ihre eigene Insel fahren. Pantelleria, eine kleine Vulkaninsel zwischen Tunesien und Sizilien. Das sei ganz wunderbar, sagt sie, rau und einsam. „Da ist nichts.“

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