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André Kubiczek, geboren 1969 in Potsdam geboren, lebt heute in Berlin.

© Dagmar Morath

Der neue Potsdam-Roman von André Kubiczek: Abschied vom großen Larry

André Kubiczek lässt in „Der perfekte Kuss“ seinen Lieblingshelden René weiter erwachsen werden. Unterwegs ist er wieder zwischen Halle an der Saale und Potsdams Wohngebiet Am Stern.

Potsdam - Das erste Mal tauchte René 2016 in einem Roman von André Kubiczek auf, in „Skizze eines Sommers“. Er war gerade einmal sechzehn Jahre alt und verbrachte den ersten Sommer seines Lebens allein in der Plattenbausiedlung im Potsdamer Stadtteil Am Stern, mit immerhin 1000 DDR-Mark in der Tasche, die ihm sein geschäftsreisender Vater zurückgelassen hatte. 

René soff und tanzte und verliebte sich das erste Mal. 2020 kam er zurück, „Straße der Jugend“ heißt dieser Kubiczek-Roman. René war gerade von Potsdam nach Halle gezogen, um an der „Arbeiter- und Bauernfakultät“ Abitur zu machen und sich auf eine Karriere im sozialistischen Ausland vorzubereiten.

Wieder ist Sommer, wieder die Ferien gerade vorbei

Und in Halle an der Saale ist er jetzt immer noch in „Der perfekte Kuss“, dem neuesten Roman von André Kubiczek. René ist bloß ein Jahr älter geworden, teilt das Internatszimmer im 7. Stock mit zwei anderen, und es ist das Jahr 1986. Wieder ist Sommer, die großen Ferien gerade vorbei. 

Renés Weg ist vorgezeichnet, es soll zum Studium nach Moskau gehen. Das Fach, „Organisation der materiell-technischen Basis“, findet er lächerlichst. Was ihn nicht davon abhält, den vorgeschriebenen Weg zu beschreiten. „Wer aber nicht Nein gesagt hatte zu einem Angebot wie diesem hier, der hatte kein Recht, sich zu beschweren. Der musste die Zähne zusammenbeißen, bis es vorbei war.“

Ein Schatten, den man DDR-Staat nennen könnte

Ahnungen wie diese, Ahnungen, dass das ewige Jetzt, in dem René sich bewegt, nicht ewig dauern wird, ziehen sich leitmotivisch durch Kubiczeks Roman. Ein Fatalismus, den die Jugend den Alten offenbar abgeschaut, mit dem sie sich gegen das scheinbar Unveränderliche gewappnet hat. 

Über die beiden Vorgänger-Romane ist immer wieder geschrieben worden, dass sie von beeindruckender Leichtigkeit seien - das stimmt für „Der perfekte Kuss“ daher nur halb. Hierüber liegt von Anfang ein Schatten, den man DDR-Staat nennen könnte. Der Roman erzählt die Geschichte einer Jugend, die es sich zur Angewohnheit gemacht hat, über diesen Staat zu lachen. Entkommen kann sie ihm aber nicht.

Club, Cabinet oder Schweine-Juwel?

Im Vordergrund steht zunächst auch hier lang und unterhaltsam der Kampf um die wichtigen Dinge im Leben eines Siebzehnjährigen. Die richtigen Zigaretten (Club, Cabinet oder die schlimmen „Schweine-Juwel“), die richtige Musik (Joy Division oder New Order?), die richtige Kneipe („Bierstube“, „Hotel Weltfrieden“ oder „Schwager“?) - und, am wichtigsten, das richtige Mädchen (die lange angehimmelte, spöttische Rebekka oder die sanftäugige, literarisch bewanderte Anja?). 

René führt Hitlisten über beste Küsse wie über beste Songs. Kurz darauf denkt er über Gorbatschow nach. Im scheinbar Banalen scheinen hier die politischen Fragen der Zeit auf. Bei der ewigen Suche nach besten Bandnamen zum Beispiel. 

Muskeln der Abschreckung gegen Skinheads

Ideen dafür kommen René vorzugsweise dann, wenn es eigentlich um andere, ernste Dinge geht: „Muskeln der Abschreckung“ lässt sich sein Potsdamer Freund Mario gegen die aggressiven Skinheads wachsen, die ihn seiner dunklen Hautfarbe wegen immer öfter belästigen. 

„Krise des Hässlichen“ ist ein ideologischer Verriss der bürgerlich-dekadenten Kunst des 20. Jahrhunderts, den René für einen Schulvortrag durchackern muss. Und auf „Der große Larry“ kommt René, als er seine Internatsfreunde fragt, wie sie es schaffen, in der Schule nicht anzuecken. „Ich reiß mich eben zusammen, so gut es geht“, sagt einer. „Wenn ich schon aussehe, wie ich aussehe, lass ich nicht noch den großen Larry raushängen.“

„Was man kaut, wird zu Brei“

Das macht René anders. Er lebt erklärtermaßen nach dem Prinzip „Augen zu und durch“ - aber er duckt sich nicht weg. In die Poesiealben der systemgetreuen FDJ-Mädchen schreibt er: „Was man kaut, wird zu Brei.“ Dafür wird er in einer FDJ-Versammlung an den Pranger gestellt. 

Und deswegen geht er am Ende nicht nach Moskau, sondern muss endlose drei Jahre zur „Asche“, zur Nationalen Volksarmee. Um danach Germanistik studieren und ein Leben lang in schwarzen Klamotten herumlaufen zu können, ohne schief angeguckt zu werden - als Verlagslektor. So denkt sich das René, der inzwischen achtzehn ist: Augen zu und durch, bis Herbst 1990.

Ein leichtes, schweres Buch, das einem das Herz bricht

Geduckt einen vorgefertigten Pfad weitertrotten - oder drei Lebensjahre opfern, um danach das zu machen, was einen wirklich interessiert? Um die Klamotten zu tragen, die man tragen will? Das sind heute unvorstellbare Entscheidungen. André Kubiczek macht sie konkret vorstellbar. Er zeigt, dass die, die diese Entscheidungen hier treffen müssen, erwachsen wirken wollen, nur mit dem Kindsein lange nicht fertig sind. Und am Ende ist doch plötzlich Schluss damit. So bricht einem dieses leichte, schwere Buch das Herz.

Im letzten Kapitel steht René mit abrasierten Haaren neben einem Freund am Potsdamer Bahnhof Pirschheide und wartet auf den Abtransport in die Kaserne. Die Unbesiegbarkeit ist dahin. Dirk heißt der Freund, ein „frischgebackener Intellektueller“, mit dem René eine Zeitschrift namens „Lef 2“ geplant hatte. Einst ein belesenes Großmaul wie René. Und jetzt? „Starrte er geradeaus ins Nichts der Pirschheide. Er guckte wie ein Kind, das nicht wusste, woher das Böse kam, das ihm geschah.“ 

André Kubiczek: Der perfekte Kuss. Roman. Rowohlt Berlin, 2022. 400 S. 24 €. Die Buchpremiere ist am So, 27. 3, 18 Uhr, im Maschinenhaus der Kulturbrauerei in der Knaackstraße.

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