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Das neue Buch von Stefan aus dem Siepen: Die Sonne, eine vertrocknete Sonnenblume

Der in Potsdam lebende Autor Stefan aus dem Siepen schreibt erklärtermaßen „unzeitgemäße Erzählungen“. „Aufzeichnungen eines Käfersammlers“ heißt sein aktuelles Buch. Hierin lauert unter der gemächlichen, märchenhaften Oberfläche der Tod.

Der Oktober passt gut zu Stefan aus dem Siepen. Diese Zeit, wenn die Sonne alles goldgelb macht, der Himmel und Menschen so tun, als sei Sommer, – aber hinter der Idylle lauert schon der Herbst, die Blätter sind welk, morgens liegt Nebel auf den Wiesen, abends kriecht einem der Frost in die Glieder. Und nachts riecht es nach Winter.

Stefan aus dem Siepens Erzählungen funktionieren so ähnlich: Die Oberfläche ist eine goldene, unverblümt gestrige Welt, die sprachlich heil, perfekt scheint, wie zuletzt vielleicht bei Thomas Mann, an dessen Erzählrhythmus Stefan aus dem Siepen sich anzulehnen scheint. Unter der gemächlichen Oberfläche aber tun sich unverhoffte Tiefen auf; hier lauert todbringende Kälte. Die Welt von Stefan aus dem Siepen scheint manchmal fast ärgerlich bequem in ihrer unzeitgemäßen Erzählweise – aber gerade dann, wenn man eingelullt ist vom märchenhaften Erzählton, tun sich Abgründe auf, die man so hier nicht erwartet hätte. Ein bisschen wie in Büchners „Woyzeck“, wo das Mädchen aus dem Sternentaler-Märchen Schutz bei der Sonne sucht und entdecken muss: Die Sonne ist nur eine vertrocknete Sonnenblume. Kein Trost, nirgends.

Freimütiges Bekenntnis zum Genre der „unzeitgemäßen Erzählungen“

„Aufzeichnungen eines Käfersammlers“ heißt das jüngste, in diesem Jahr erschienene Buch des in Potsdam lebenden Autors. Auch der Titel ist ein unverhohlener Knicks vor einem Großen anderer Zeit: Rainer Maria Rilke hatte seinen 1910 erschienenen, aus unzusammenhängenden Einzelteilen bestehenden Roman, „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ genannt – wobei Rilke im Gegensatz zu aus dem Siepen sprachlich ungeheuer zeitgemäß daherkommt. Im Untertitel bekennt sich aus dem Siepen freimütig zu dem eigenwilligen Genre, das er hier in elf unverbundenen Teilen zelebriert: „Unzeitgemäße Erzählungen“.

Unzeitgemäß, jawohl: aus dem Siepens Figuren könnten irgendwann leben, gestern, vor 50 Jahren oder auch vor 100. Da ist die tragikomische Gestalt des Artisten in der Zirkusmanege, der seine Attraktion – alle Achtung: seine zwei Daumen – mit der Hingabe eines hochsensiblen, von Selbstzweifeln ebenso wie von Selbstüberhöhung geplagten Künstlers präsentiert. Da ist der Mann, der seitenlang über eine mögliche Aussprache mit einem Freund sinniert – sein Zögern, die vermeintlichen Vermeidungstaktiken des Gegenübers, die ihn quälen – ohne dass die Leserin erfahren würde, worum es in dieser Aussprache eigentlich geht. 

Oder da ist der Junge Robert, der früh sein Talent zum Weihnachtsmann-Sein entdeckt, der schon als Jugendlicher damit Massenerfolge erzielt – auch er einer, der seine von außen besehen eher simpel wirkende Kunst hochernst nimmt –, dem dann aber die Freude am Spiel, seinem Lebensinhalt, abhandenkommt. Wie der arme Robert scheitert, wie ein um sein Bestes Bemühter von einer johlenden Masse ausgebuht wird: ein Bild des existenziellen Scheiterns, das durch Mark und Bein geht.

Die Geschichte einer Abschottung gegen die Außenwelt

Auch der titelgebende Käfersammler ist so ein scheiternder Perfektionist. Was für Robert die Rolle des Weihnachtsmannes, ist für den Ich-Erzähler in „Aufzeichnungen eines Käfersammlers“ die Jagd nach dem Weidenbläuling, ein betörend schönes Käferexemplar. Zunächst wirkt der Käfersammler nur wie ein etwas schräger, jenseits von aus dem Siepens Welt würde man sagen: nerdiger Zeitgenosse. Er sammelt Käfer, so what? Dann nehmen die Exponate nach und nach sein Haus ein, statt Artenvielfalt gibt es bald nur noch den einen, den Weidenbläuling. Die Vorhänge bleiben zu, die Luft draußen: In allem sieht der Sammler nur noch Bedrohung. Das Ende hat sich da längst eingenistet: ein Schädling, der bezeichnenderweise die Totenuhr heißt, frisst die präparierten Käfer auf. Das Refugium des Käfersammlers wird von innen zernagt.

Wer in solcher Abschottung einen Kommentar auf heutige Weltpolitik sehen will, mag das ruhig tun – vielleicht hat der Autor aus dem Siepen, hauptberuflich im Planungsstab des Auswärtigen Amts in Berlin tätig, das sogar beim Schreiben im Blick. Wer weiß, er zeigt es nicht: Seine Welt ist luftdicht verschlossen, wie das Haus des Käfersammlers. Kein Zufall vielleicht, dass sich eine Liebeserklärung des Sammlers an seinen Weidenbläuling liest wie eine Beschreibung dieser Literatur: Nicht nur die Schönheit der Käfer ergreife ihn, sagt er einmal, sondern „die Ernsthaftigkeit, die sie ausstrahlen, ihr gemessenes, von einer eigentümlichen Würde getragenes Wesen.“ 

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— Stefan aus dem Siepen: „Aufzeichnungen eines Käfersammlers“. Unzeitgemäße Erzählungen, erschienen im Verlag dtv, 217 Seiten, 21 Euro

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