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Die Choreografin Alice Van der Wielen-Honinckx (links) und die Tänzerinnen Mariana Miranda (Mitte) und Jeanne Colin.

© Andreas Klaer

Choreografie am Schlaatz: Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

Auf der Suche nach tieferer Wahrnehmung: Die belgische Choreografin Alice Van der Wielen-Honinckx tritt mit Tänzerinnen im Bürgerhaus am Schlaatz auf.

Potsdam - Drei Frauen liegen hingestreckt auf einer Bühne. Der Boden: beigefarbener Teppich. Bequem sieht das aus, fast privat. Die Frauen tragen bunte Kleidung. Sie tun: nichts. Oder fast nichts. Sie atmen. Schauen. Nur ganz langsam hebt sich eine Hand, ein Kopf. Auch die Bewegung scheint nur eine Verlängerung des Ruhezustands zu sein: ein minimal beschleunigter Stillstand.

Eine der drei Frauen ist Alice Van der Wielen-Honinckx. Sie hat sich das Stück ausgedacht: „Creatures at rest“. Bisher gab es nur kurze Ausschnitte davon, und einmal in Brüssel einen Vorversuch in einem Schaufenster. Die belgische Choreografin ist nach Potsdam gekommen, um das Stück im Rahmen des neuen, von der fabrik mit Bundesmitteln gestemmten Programms Dance in Residence hier zu Ende zu bringen. Eine „durational performance“ soll es werden, wie Stücke von unhandlicher Länge heißen. „Creatures at rest“ ist vergleichsweise zahm: Angedacht sind drei Stunden.

Den Tanz stärken

Das Programm Dance in Residence ist eine Kooperation von fabrik, TanzWerkstatt Cottbus, Brandenburgischem Landesmuseum für moderne Kunst sowie der Wohnungsbaugesellschaft Pro Potsdam und dem Bürgerhaus am Schlaatz. Es will in pandemischen Zeiten zweierlei: den Tanz stärken, indem lokale und internationale Künstler:innen in ihrer Arbeit unterstützt werden. Und den Tanzstandort Brandenburg stärken. Nach Potsdam wird Alice Van der Wielen-Honinckx Ende Mai, Anfang Juni noch zwei Wochen im Dieselkraftwerk in Cottbus verbringen.

Im Moment wohnt sie für zwei Wochen in einer Wohnung im Schlaatz. Begibt sich jeden Tag mit den beiden Tänzerinnen Jeanne Colin und Mariana Miranda in das Bürgerhaus, um die Ruhe zu proben. Wer sie dort besucht, bekommt eine Ahnung davon, was die drei in dieser Arbeit suchen. Der Probenraum ist so still, dass man den Atem der Tänzerinnen hören kann. Auch jenseits der Bühne bewegen sie sich behutsam, konzentriert. Alice Van der Wielen-Honinckx spricht, als könnte schon eine ungelenke Bewegung dieses fragile Etwas im Raum zerstören, das sie Atmosphäre nennt. „The living quality of the space“, hat sie das in einem Essay beschrieben: die lebendige Qualität, die ein Raum hat. Das, was man spürt, aber schwer in Worte fassen kann.

Geruch, Gefühl, Klang

Die Auseinandersetzung damit begann für Alice Van der Wielen-Honinckx in „The Senders“, einer immersiven Installation der Berliner Tänzerin Stav Yein in Brüssel. Alice war in dem Stück erst Zuschauerin, dann Tänzerin – oder vielmehr eben: „Sender“. Verstärker einer „sensorischen Erfahrung“. Tanz ist hier nicht als Bewegung im Raum gedacht, sondern als Choreografie non-verbaler Erfahrungen. Geruch, Gefühl, Klang.

Auch „Creatures at rest“ sucht nach einer solchen intensivierten Wahrnehmung. „Deep perception“ nennt Alice Van der Wielen-Honinckx das. Der Weg dahin: Entschleunigung. „Wer sich Zeit nimmt, nimmt intensiver wahr“, sagt sie. Schaut die Dinge und Menschen nicht nur an, sondern, zu einem gewissen Grad, auch in sie hinein. Am Ende dieser Durchleuchtung steht jedoch nicht die totale Entblößung des Objekts, sagt Van der Wielen-Honinckx. Sondern, weil sich im genauen Hinsehen Detail auf Detail auf Detail türmt, mehr Geheimnis.

Corona entschleunigt

Man könnte diese Wiederentdeckung der Langsamkeit für eine Begleiterscheinung der Pandemie halten. Redet nicht alle Welt davon, dass Corona das Leben entschleunigt? Aber Alice Van der Wielen-Honinckx beschäftigt sich schon seit 2017 mit dem Thema. Zunächst als Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin, durch Theorien wie die von Gilles Deleuze gewappnet. In jüngerer Zeit auch als Performerin. „Creatures at rest“ ist ihre erste Arbeit als Choreografin.

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„Dass die Pandemie das Leben verlangsamt, stimmt auch nicht unbedingt“, sagt sie. „Eher im Gegenteil.“ Wo man davor eine Sache nach der anderen gemacht hat, erst die Arbeit, dann die Kinderbetreuung zum Beispiel, macht man jetzt alles parallel. „Die Menschen sind jetzt gestresster als früher“, sagt sie. Sicher, bei manchen führe die Pandemie auch zu bewussterem Dasein. Aber nicht automatisch. „Das muss man wollen.“ Dass die Hyperaktivität, das Immer-Mehr-Denken einer an Konsum ausgerichteten Gesellschaft ökologisch, politisch, gesellschaftlich schädlich sein kann, wusste Alice Van der Wielen-Honinckx schon lange, bevor die Pandemie viele Lebensbereiche lahm legte. „Corona hat diese Dinge nur sichtbarer gemacht.“

„Creatures at Rest“, Livestream am 6. Mai von 14 bis 17 Uhr aus dem Bürgerhaus am Schlaatz auf www.fabrikpotsdam.de

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