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Buch von Harald Kretzschmar: Der alternative Künstlerreport

Karikaturist Harald Kretzschmar schlägt zu.

Potsdam - Wir kennen diese Köpfe. Viele jedenfalls. Was sie dachten, was sie fühlten, wissen wir oft nur aus zweiter Hand. Oder aus ihren Werken. Harald Kretzschmar hat sie für uns porträtiert: in der ihm eigenen zugespitzten Überhöhung. Oft schafft der Kleinmachnower Karikaturist mit wenigen Strichen mehr als es lange Abhandlungen vermögen: Er kitzelt den Kern des Menschen heraus.

In seinem neuen Buch „Stets erlebe ich das Falsche“ liefert er einen alternativen Künstlerreport ab. 50 Köpfe von Menschen, die ihn durch die Zeiten begleiteten, formten, herausforderten. Diesen Porträts von einst stellt er seine rückblickenden lebensgetränkten pointierten Texte zur Seite und versucht zugleich ein Selbstporträt. Nein, keine Memoiren. „Um Gottes willen. Von der Windel übers eigene Kindel bis zu anempfohlenen Mündeln? Nein.“ Wenn es schon so ganz persönlich sein soll, dann in erster Linie heiter.

Und so erzählt er zwar über sich, aber immer in Distanz: meist in der dritten Person. Wir erfahren, wie der zarte und hypersensible Knabe 1931 in Berlin-Steglitz zur Welt kam, nach Dresden zog, wo der Vater eine Chemiefabrik leitete und wie das Bildungsbürgerkind zum vormilitärischen Drill beim nazistischen Jungvolk musste, der nur erträglich war, wenn er sich in Geländespiel in der Dresdner Heide auflöste. Die Disziplin eines Schulverbandes war ihm ebenso wie die Marschformation ein Gräuel. Dafür wucherte sein Zeichentrieb. Dieses Talent wurde später von Josef Hegenbarth und Otto Griebel entdeckt und fürs karikierende Porträt gefördert. Und so kam er als Grafikstudent nach Leipzig. Bei seiner ersten Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie 1950 in Berlin fiel er indes durch, ebenso wie der heute als Genie gefeierte Gerhard Richter, weil sie nicht das Flechtwerk eines Obstkorbes getreu nachzuzeichnen verstanden.

Mit seinen Porträtkarikaturen wurde der Dresdner für fünf Jahre Leipziger: Zeichnete sich mitten hinein in das von Verwerfungen immer wieder überrollte künstlerische Milieu des Ostens. Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke waren bald Kollegen auf Augenhöhe, denen er in seinem Buch sympathiereich nachruft. Er stellt sich gegen den Kanon der Gleichmacherei, formt individuelle Menschenbilder im Zickzacklauf, in dem er seine ganz eigenen Erlebnisse notiert. Und auch vor einen Willi Sitte stellt er sein Schutzschild, will ihn nicht in ein Schema pressen lassen. Harald Kretzschmar wehrt sich gegen Abwertungen, hält sein bärtiges Gesicht selbstbewusst und trotzig für die hin, die ihn einst stützten und begleiteten.

Viele Ostler kennen Harald Kretzschmar von seinen Zeichnungen aus dem Satiremagazin „Eulenspiegel“, bei dem er von 1956 bis 1991 mit Heinz Behling, Henry Büttner und Manfred Bofinger die Gesichter der Kulturszene kantig, markig, provozierend aufs Papier brachte. Er fand auch danach ausreichend Stoff für seinen spitzen Stift. Dieser Künstlerreport mit Koryphäen wie Marie Marcks, Adolf Born oder Boris Jefimow ist ein sehr politisches Buch geworden, das aneckt, gegenhält, ganz subjektiv die Welt in 87 Jahren betrachtet. Die Biermann-Affäre, Devisennot, die Heimkehr des Herrn von Bülow, sprich Loriot, nach Brandenburg, das alles streift noch einmal die Erinnerung. Oft möchte man auch widersprechen, ist die eigene Sicht ganz anders. Aber wer kennt schon wen? 

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Harald Kretzschmar: Stets erlebe ich das Falsche: Der alternative Künstlerreport. Quintus Verlag 2017, 240 Seiten, 20 Euro.

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