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Rau wie die Kiefer: Das Buch „Unausstehlich und reizend zugleich“ dringt  tief in die Brandenburger Seele ein.

© Bernd Settnik/dpa-Zentralbild

Buch über die Brandenburger Seele: Im postindustriellen Erwartungsland

Wie sind sie, die Brandenburger? Ein lesenswertes Büchlein des Potsdamer vacat Verlags wagt den Versuch einer Bestandsaufnahme.

Potsdam - Am pointiertesten bringt vielleicht Nell Zink die Sache auf den Punkt. „Die Gesellschaft ist also gespalten, die Menschen hier ein einziger Widerspruch“, schreibt die Wahl-Bad-Belzigerin über den Menschenschlag, unter den es sie, die US-amerikanische Autorin, verschlagen hat. „Warmherzig, abweisend, bodenständig, esoterisch angehaucht und ausgestattet mit gewissenlosem Selbsthass.“ So seien sie, die Brandenburger. Sind sie so?

„Unausstehlich und reizend zugleich“ heißt das im Potsdamer vacat Verlag erschienene Büchlein, das sich anschickt, „die Brandenburger“, unter die Lupe zu nehmen. Schon eine Ausstellung zum gleichen Thema im Schloss Rheinsberg im Frühling und Sommer dieses Jahres hieß so. Das vorliegende Buch, handliches Format, robuster Einband, ist der Begleitband zur Schau.

Der Literaturwissenschaftler Peter Walther ist Herausgeber des Buches.
Der Literaturwissenschaftler Peter Walther ist Herausgeber des Buches.

© Ottmar Winter

Die Widersprüchlichkeit der Brandenburger

Der Titel nimmt vorweg, was das Buch ausführt: Um eine solch vage, auch heikle Angelegenheit wie die kollektive Identität einer, durch nichts als geographische Koordinaten verbundenen, Gemeinschaft anzufassen, nimmt ihn Herausgeber Peter Walther in den Zangengriff. Packt den glitschigen Gegenstand von mehreren Seiten, hält ihn sich um Armeslänge vom Leib. Um so, mit gesundem Abstand betrachtet, von jedem beobachteten Phänomen immer auch sein Gegenteil auszumachen – oder doch zumindest eine weitere Beobachtung, die der zuvor gemachten ein Bein stellt. Das Vorwort erläutert: Herausgeber und Autoren verbinde die heitere Einsicht, „dass die Beschreibung einer regionalen Mentalität immer unscharf bleiben muss.“

„Unausstehlich und reizend“, das hat Fontane einst über den märkischen Adel geschrieben. Diese Widersprüchlichkeit wird hier zum Prinzip erhoben. Heiterkeit ebenfalls. Der Herausgeber hat sich bei namhaften Brandenburger Autoren dafür bedient. Lutz Seiler, Martin Ahrends, Antje Rávik Strubel, Julia Schoch. Einige Texte sind schon bekannt, was sie nicht weniger lesenswert macht. Strubels „Gebrauchsanweisung für Brandenburg“ erschien 2012, der knarzig heitere Tonfall darf auch 2019 nicht fehlen: oben rau und innen zart, ganz wie sein Sujet. Die gnadenlos beobachtete Maulfaulheit der Brandenburger („kommunikativ so karg wie ihre märkischen Felder“) erklärt Strubel empathisch und trocken: „Fürs Zwischenmenschliche taugt die Sprache nicht, weil die Worte nie so tief reichen, wie beim Brandenburger die Gefühle sitzen.“

Schriftstellerin und Übersetzerin Antje Rávic Strubel.
Schriftstellerin und Übersetzerin Antje Rávic Strubel.

© Andreas Klaer

Nur ein Missverständnis?

Die äußere Grobheit der Brandenburger, nur ein Missverständnis?, fragt auch Julia Schoch. „Genauso wie in Wahrheit Zärtlichkeit mitschwingt, wenn auf einem Konzert dem etwas schüchternen Sänger einer Band (natürlich von außerhalb) bei dem Versuch, Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen, bloß der Ruf entgegentönt: Halts Maul und spiel weiter.“

Der Hauptteil des Büchleins gehört der „Autoplauderei"“ ein Essay von Martin Ahrends. Der in Werder lebende Autor schreibt sich in seinem Beitrag einen Blick von außen an die Seite, einen Schweizer Verleger namens Beat. Mit Beat reist er durch das „postindustrielle Erwartungsland“ Brandenburg, zeigt ihm den Teltowkanal, die Kohlhasenbrücke, „das Mäurli“. Dem Schweizer wird das Land erklärt, die Geschichte. Wo Kleist sich erschoss, wo Otto Lilienthal abstürzte, wo Pückler baute, wo Bettina von Arnim vor der Langeweile floh. Das kommt bisweilen recht didaktisch daher, hat aber den Vorteil, dass man wirklich allerhand lernt: Bei Zossen schaffte Anfang des 20. Jahrhunderts ein Zug schon 200 km/h, in Brandenburg an der Havel wurden einst Brennabor-Autos hergestellt, der erste Atomreaktor stand bei Gottow im heutigen Landkreis Teltow-Fläming. Von wegen Agrarland.

Die Schriftstellerin Julia Schoch.
Die Schriftstellerin Julia Schoch.

© Andreas Klaer

Eine große Projektionsfläche

Wobei Brandenburgs Ruf als Flächen- und Ackerland natürlich auch zur Wahrheit gehört, siehe Widerspruchsprinzip. „Eine Gegend, die arm ist an natürlichen Ressourcen kann zur Bescheidung neigen oder zur Übertreibung“, lässt Ahrends den Schweizer wissen. „Bei uns findest du beides.“ Preußische Tugenden hingegen findet Ahrends hier kaum noch.

Zwei Weltkriege und 40 entmündigte Nachkriegsjahre führten ihm zufolge dazu, dass die harten preußischen Tugenden „aufgeweicht“ wurden. Dafür seien der „Tag von Potsdam“, Hitlers Begegnung mit Hindenburg 1933, und die „Nacht von Potsdam“, die Zerstörung der Stadt im April 1945, wieder gegenwärtig – „weil uns offenbar nichts Neues einfällt zu dieser Stadt.“ Immerhin hat, so Ahrends, auch der alte Geist von Potsdam, das militärisch schlagende Herz, im April 1945 die Stadt endgültig verlassen. Geblieben ist ein Erbe der Preußen und DDR-Diktatur: „Die Leute sind daran gewöhnt, dass alles Gute von oben kommt.“

Der Autor Martin Ahrends.
Der Autor Martin Ahrends.

© privat

Weniger interessant

Untertanengeist und Obrigkeitshörigkeit: Einigen Ideen wäre man gerne weiter gefolgt. Ahrends Text aber bleibt – vielleicht ganz im Sinne heiterer Unverbindlichkeit – letztlich eine Spazierfahrt durch die Themen: stimulierend, unterhaltsam, mit Bildern, Gedanken, Sätzen, die im Vorüberziehen durchaus bleiben. Anders die Gespräche mit den drei Politikern, die den letzten Teil des Bändchens ausmachen. Was die literarischen Texte naturgemäß offenlassen, andeuten, umschiffen, machen die Interviews mit dem gerade erst verstorbenen Manfred Stolpe, mit Matthias Platzek und Dietmar Woidke wieder eindeutig. Eng – und letztlich wenig interessant.

Interessant bleibt die Erinnerung, wie jung der neuerliche Versuch einer brandenburgischen Identität eigentlich ist: ziemlich genau 30 Jahre. Bis 1990 gab es die Bezirke Frankfurt (Oder), Cottbus und Potsdam, aber kein Konzept von Brandenburg – das machte erst Manfred Stolpe wieder stark.

Letztlich sieht in diesem Land wohl jeder, was er sucht. Martin Ahrends hat es schöner formuliert: Brandenburg sei „eine große Projektionsfläche“. Nicht ohne ehrlicherweise anzufügen: „Auch für mich.“

— Peter Walther (Hrsg.): unausstehlich und reizend zugleich. vacat Verlag, 2019, 112 Seiten, 18 Euro. Das Buch ist auf www.vacatverlag.de bestellbar.

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