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Briefe von Brigitte Reimann: Post vom schwarzen Schaf

Die Geschwisterbriefe der Brigitte Reimann sind Zeitdokument und intimes Porträt einer engen und warmherzigen Familienbande.

Potsdam- Der Sonntag war für Brigitte Reimann der Briefschreibetag. Sie schrieb stundenlang – an die Eltern, die drei Geschwister, Freunde. Es war ein festes Ritual. Denn in Zeiten ohne Telefon und E-Mail schien es lebensnotwendig zu sein, gerade für eine Autorin wie Reimann, sich auf diese Weise mitzuteilen und auszutauschen mit den entfernt lebenden Nächsten. Auch wenn Brigitte Reimann, wie sie selbst schreibt, auch sonst „eh den ganzen Tag kritzelt“.

Neben ihren Werken, vor allem ihrem Roman „Franziska Linkerhand“ und ihren Tagebüchern sind die Briefe der prominenten DDR-Autorin inzwischen fester Bestandteil der Literaturgeschichte. Der Berliner Aufbau-Verlag brachte vor einigen Jahren bereits die Briefe an ihre Eltern heraus und die Korrespondenz mit Christa Wolf. Im vergangenen Jahr, als die bereits 1973 verstorbene Reimann 85 Jahre alt geworden wäre, erschienen unter dem schönen Titel „Post vom schwarzen Schaf“ die Geschwisterbriefe, aus denen die Schauspielerinnen Carmen-Maja Antoni und Tochter Jennipher am Donnerstag in der Stadt- und Landesbibliothek Potsdam lesen werden.

Insgesamt knapp 300 Briefe haben die Herausgeberinnen Angela Drescher und Heide Hampel in dem Band versammelt. Immens viel Briefverkehr habe es zwischen den Geschwistern gegeben, erzählt Angela Drescher, mehr als doppelt so viele wie die 300 im Band versammelten Briefe seien gesichtet worden. In erster Linie also eine Fleißarbeit, aber auch eine Kompositionsaufgabe. Zwar gibt der Zeitenlauf die Abfolge vor, Verdienst der Herausgeberinnen ist aber die sorgfältige Zusammenstellung der Briefe. Sie geben einen direkten Einblick in das Alltagsleben der DDR in den 1960er-Jahren und sind einem Roman ähnlich ein intimes Porträt einer engen und sehr warmherzigen Familienbande.

Brigitte war die älteste von vier Geschwistern, nach ihr kam der ein Jahr jüngere Bruder Ludwig, genannt Lutz, und mit etwas Abstand Uwe und Dorothea Reimann. Lutz ging 1960 in den Westen und schreibt fortan von Hamburg aus Briefe an seine sozialistisch gesinnte Schwester. Der Ton zwischen beiden ist rau und die politischen Auseinandersetzungen, die sie postalisch führen, sind exemplarisch für den Kalten Krieg: „,Es wurden Fehler gemacht!’ – Wenn ich das schon höre!“, schreibt Lutz 1961 an Brigitte. „Diese Fehler hat man schon 1952/53 gemacht und hat nichts daraus gelernt.“ Die DDR setzt Lutz nur in Anführungsstriche. „Denn an der Bezeichnung ,Deutsche Demokratische Republik’ ist nämlich leider nur das ,deutsch’ zutreffend. Das Volk hat diese Leute und diesen Staat nie gewählt und nie gewollt.“ Oder: „Manchmal packt einen die kalte Wut, wenn man bedenkt, wie man die Jugend drüben zu belügen versucht und ihre Ideale missbraucht.“

Die in den höchsten politischen Kreisen der DDR engagierte Brigitte Reimann diskutiert mit ihrem Bruder bis zur Verbissenheit, muss aber, und das zeigen diese Briefe sehr eindrücklich, mit dem Lauf der Jahre ihm mehr und mehr beipflichten.

Gefetzt hat man sich gerne bei den Reimanns. Allen voran die streitlustige und temperamentvolle Brigitte mit ihrem Eigensinn. Immer geht es turbulent zu, wenn die Geschwister mit den Eltern beisammen sind. Was aber überwiegt und wirklich bewegt beim Lesen des Briefverkehrs, sind die Wärme und der Familiensinn, der alle eint. Vater Willy Reimann initiiert – gerade weil der älteste Sohn im Westen lebt – den „Familienschrieb“. Anfänglich jede Woche versammelt er in einem Brief an alle Geschwister die wichtigen Ereignisse und Erlebnisse. Wie er die aufgrund der politischen Verhältnisse auseinanderdividierte Familie zusammenhält, ist sehr anrührend. Mehr als 100 dieser Familienschriebe sind laut Angela Drescher im Laufe der Zeit entstanden.

Zugleich lebt diese Briefsammlung von der Schilderung der Alltagsnöte in der DDR: Etwa wenn die kleine Schwester Dorothea 1965 eine Wohnung sucht, ihr aber mangels Wohnraum eine Bleibe für sie, ihren Mann und ihre gerade geborene Tochter verwehrt bliebe, wenn nicht die große Schwester an höchster Stelle für sie eintreten würde. Auch in den kleinen Dingen spielt Brigitte Reimann hingebungsvoll die Rolle der großen Schwester. Sie schickt häufig Pakete, mal Strumpfhalter, mal Thunfischbüchsen, oder besorgt ihren Geschwistern vergriffene Bücher. Gerade im Briefwechsel mit ihrer zehn Jahre jüngeren Schwester zeigt sich eine große Verbundenheit und eine Stärke der beiden Frauen – Dorothea bekam mit 20 Jahren ihr erstes Kind und kämpft mit der moralischen Unterstützung ihrer Schwester um ihre Selbstverwirklichung als Mutter und berufstätige Frau. Dabei sind beide sehr unterschiedlich: Brigitte, die sich selbst das schwarze Schaf der Familie nennt, war in ihrem Leben viermal verheiratet, kinderlos und verschrieb sich ganz den gesellschaftlichen Veränderungen, während Dorothea Mutter dreier Kinder wurde. In der Korrespondenz mit ihren Geschwistern gibt sich Brigitte Reimann – und das vervollständigt das Bild der Schriftstellerin – von einer schonungslosen Ehrlichkeit und Offenheit und später in ihrer ganzen Verzweiflung. Als sie an Krebs erkrankt, wird ihr die gesamte Familie, vor allem aber die Schwester und auch der älteste Bruder Lutz, ein großer Trost sein. Gerade da, wo die Briefe der Brigitte Reimann ab Ende 1972 fehlen, lässt sich ahnen, welche unendlich traurige Lücke der frühe Tod von Brigitte in der Familie Reimann riss.

Im Rahmen der Brandenburgischen Frauenwoche lesen Carmen-Maja Antoni und Tochter Jennipher aus den Geschwisterbriefen am Do, 14. März, um 19 Uhr in der Stadt- und Landesbibliothek am Kanal

— Brigitte Reimann: Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe. Aufbau-Verlag 2018, 416 Seiten. 24 Euro

Grit Weirauch

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