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Die Potsdamer Schriftstellerin Antje Rávik Strubel

© picture-alliance/ dpa

Antje Rávik Strubels Roman "Blaue Frau": Nah im Unerkundbaren

Vom Recht, sich selbst zu erzählen, und das auch noch fesselnd: Antje Rávik Strubels Roman „Blaue Frau“ ist das Porträt einer Frau - und von Europa.

Sie hat nicht einen Namen, sie hat drei. Adina. Nina. Sala. Diese Namen bekommt die Protagonistin von Antje Rávik Strubels Roman „Blaue Frau“ (S. Fischer, Frankfurt/Main 2021.432 S., 24 €.) von anderen verliehen. Einen weiteren gibt sie sich selbst.

„Mohikaner“ nennt sich das junge Mädchen aus dem tschechischen Riesengebirge anfangs in den Internetforen, ihrem Zufluchtsort. „Der letzte Mohikaner“, so unterschreibt sie gegen Ende in Helsinki eine Mail an die Menschenrechtsaktivistin Kristiina. Es ist ein Hilferuf. „Wenn ich Ihnen nicht schreibe, komme ich um.“

Zwischen dem Teenager Adina und dem Hilferuf liegt eine Flucht quer durch Europa. Und ein Verbrechen, das die junge Frau an den Rand der Auslöschung bringt. „Blaue Frau“ beschreibt gewissermaßen die Gegenbewegung: den Versuch, sich nicht auslöschen zu lassen.

Es beginnt in Helsinki

Der Roman, der für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde, erzählt die Geschichte eines Traumas, den Versuch, es zu überwinden, nicht zuletzt mithilfe der Sprache.

„Blaue Frau“ ist nicht nur das Porträt einer Frau, sondern auch Europas aus osteuropäischer Sicht, rund 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Und was man erst nach und nach begreift: Dieser Roman schaut sich selbst beim Entstehen zu. Er thematisiert das Schreiben, ohne die Dichte seiner Geschichte zum Bröseln zu bringen. Dass er das kann und trotzdem packend erzählt ist, macht ihn außergewöhnlich.

Zu Beginn sitzt die Frau, die wir hier Adina nennen wollen, in einer möblierten Wohnung in Helsinki. Adina badet, trinkt Schnaps, schaut aus dem Fenster. Sie scheint die Welt und die Wörter, die sie bevölkern, erst neu kennenzulernen. Das Rascheln der Blätter am Vogelbeerbaum vorm Haus: „Das sind die Geräusche.“ Eine Narbe am rechten Knie: „Das ist der Blick.“

[Antje Rávik Strubel: Blaue Frau. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 432 Seiten, 24 €.]

Es ist dies der distanzierte, fragmentierte Blick eines Menschen, dessen Gewissheiten durch eine große Verletzung grundsätzlich erschüttert wurden. Worin diese Verletzung besteht, schält sich erst sehr langsam heraus. Dass es mit männlicher Gewalt zu tun hat, ahnt man lange, bevor vom Vergehen selbst die Rede ist. Auf Männer ist hier nicht zu zählen. Auf manche Frauen auch nicht.

Adinas Gedanken wandern aus der finnischen Bleibe zurück zu den Stationen ihres Weges. Harrachov zunächst, ein Touristenstädtchen im tschechischen Skigebiet. Wo sie geboren wurde, fünf Jahre bevor die Samtene Revolution das Tor zum Westen aufstieß.

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Dort verkauft sie Glühwein an Touristen, hat Sex mit einem Jungen, entscheidet nach der Schule, nach Berlin zu gehen. Um Deutsch zu lernen. Die ersten Worte kennt sie aus dem Schulunterricht: kein, nein und nicht. Formen der Verneinung. Sie werden ihr nichts nützen.

Sprachlich ist „Blaue Frau“ von atemberaubender Poesie. Nichts ist kitschig, nichts gefühlig, nichts an der Figur übergriffig. Um Adina nahe zu kommen, braucht Rávik Strubel kein Ich, sie beobachtet lupengenau.

Sie erzählt nicht, wie die traumatisierte Adina sich fühlt, sondern, wie sie die Welt sieht. In die Erinnerungen mischt sich bald jene an den zeitweisen Geliebten Leonides, Professor der Politikwissenschaft in Helsinki und als Este besessen vom Trauma sowjetischer Besatzung und westlicher Überlegenheit.

Nachdem Adina durch halb Europa geflohen ist, gewährt Leonides ihr Unterschlupf. Er hält Vorträge über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit – aber, bittere Volte, erkennt nicht, dass er es selbst mit dem Opfer eines Verbrechens zu tun hat. Stattdessen gibt er ihr einen neuen Namen: Sala. Adina hat nichts dagegen. Adina hat, was sie gesucht hat: Ruhe.

Drei Namen - und dann noch "Mohikaner"

Auch den Namen Nina bekommt sie verpasst. Von Berlin aus, wo sie über die Fotografin Ricky mit Kunst und lesbischer Sexualität in Kontakt kommt, reist sie weiter in ein uckermärkisches Dorf. Ein Ort der Kulturvermittlung angeblich, in Wahrheit ein heruntergekommenes Herrenhaus.

Unklar, was Adinas Aufgabe ist. „Eine Osteuropäerin im Schlepptau ist der beste Schmierstoff der Welt“, sagt der windige Investor, der sich ihren Namen nicht merken kann und sie daher Nina nennt. Es wird klar, dass auch andere Dienste von ihr erwartet werden.

Insbesondere als „ein Multiplikator mit glänzenden Verbindungen in Berlin“ auftaucht. Ein Kulturattaché, „der für Osteuropa sensibilisiert werden sollte“: Adinas Aufgabe. Vor diesem Multiplikator wird sie nach Finnland fliehen.

Einmal zitiert die blaue Frau Ilse Aichinger

Dass der früh eingeführte „Mohikaner“ bei all dem auf seinen Auftritt wartet, ist lange vorhersehbar; und manche Dialoge sind beinahe großspurig schlagfertig geschrieben. Wichtiger ist, dass Rávik Strubel trotz größter erzählerischer Präzision eine Unschärfe erhält, die süchtig macht: Seite für Seite versucht man, besser zu verstehen, wer diese Adina, dieser Mohikaner ist – sein will. Erst die Menschenrechtsaktivistin Kristiina, die ihr nach langer Odyssee rechtlichen Beistand organisiert, stellt die Frage: „Soll ich dich Mohikaner nennen?“ Das fragt sonst niemand.

Das Recht, sich selbst zu benennen, sich selbst „zu erzählen“, ist das Kernthema des Romans. Parallel zu Adinas Leidensweg gibt es eine weitere, scheinbar unverbundene Ebene. In kurzen Kapiteln taucht hier die „blaue Frau“ auf, trifft am Hafen von Helsinki auf eine Ich-Erzählerin. Wer ist sie, wer erzählt da?

Dieser zweite Spannungsbogen umfasst den ganzen Roman, ohne eindeutig aufgelöst zu werden. Vermutlich spricht hier eine Facette der Autorin selbst – aber mit wem? Mit ihrem „Sujet“? Mit der Frau, aus der die Autorin Adina macht? Mit sich selbst? „Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten“, heißt es einmal. Ein anderes Mal zitiert die blaue Frau llse Aichinger, und besser könnte man nicht sagen, was diese Lektüre so fesselnd macht: „Im Unerkundbaren kommen wir einander nah.“

Lena Schneider

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