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Der 101 Jahre alte Josef S. hat die gegen ihn erhobenen Vorwürfe stets bestritten. 

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Update

Fünf Jahre Haft für früheren KZ-Wachmann: Josef S. habe „Terror und Massenmord gefördert“

Dem 101 Jahre alten Angeklagten wurde Beihilfe zum Mord in mehr als 3500 Fällen zur Last gelegt. Sein Verteidiger hatte einen Freispruch gefordert. Am Dienstag fiel das Urteil.

Brandenburg an der Havel - Im NS-Prozess gegen einen früheren Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen ist der 101-jährige Angeklagte wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Josef S. habe mit seiner Tätigkeit „Terror und Massenmord gefördert“, sagte der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann bei der Urteilsverkündung am Dienstag in Brandenburg an der Havel. Das sei ihm auch bewusst gewesen. Mit seiner Wachtätigkeit habe er die NS-Verbrechen in Sachsenhausen bereitwillig unterstützt. Der Verteidiger kündigte Revision zum Bundesgerichtshof an. (AZ: 11 Ks 4/21)

Das Landgericht Neuruppin verurteilte S. auch wegen Beihilfe zum versuchten Mord und folgte mit dem Strafmaß dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Das Gericht halte fünf Jahre Haft für „tat- und schuldangemessen“, sagte Lechtermann. Damit bestehe für Josef S. auch die Chance, seine Haftentlassung noch zu erleben. Eine wirklich gerechte Strafe könne es für das Leid, das Menschen durch die NS-Verbrechen zugefügt wurde, nicht geben, betonte der Vorsitzende der Strafkammer. Das „Grauen von Sachsenhausen“ sei so unbeschreiblich gewesen, dass es sich kaum in Worte fassen lasse.

Josef S. wird noch nicht inhaftiert

Das Strafmaß für Beihilfe zum Mord liegt bei 3 bis 15 Jahren, eine Bewährungsstrafe ist damit nicht möglich. Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, wird Josef S. jedoch nicht inhaftiert. Der Verteidiger hatte einen Freispruch oder im Fall einer Verurteilung eine Bewährungsstrafe beantragt. Nebenklagevertreter hatten sich für eine Haftstrafe von mindestens fünf Jahren ausgesprochen.

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Die Staatsanwaltschaft hatte Josef S. wegen Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord in mehr als 3500 Fällen angeklagt. Den Ermittlungen zufolge war er zwischen dem 23. Oktober 1941 und dem 18. Februar 1945 als SS-Mann in Sachsenhausen im Einsatz, zunächst zur Ausbildung und ab Anfang 1942 auch im regulären Dienst als Wachmann. Er selbst hat dies in dem rund neun Monate währenden Verfahren mehrfach bestritten, zuletzt in seinem letzten Wort vor Gericht am Montag.

Wachdienst in Sachsenhausen sei nahezu lückenlos dokumentiert

Das habe ihm das Gericht jedoch nicht abgenommen, sagte Lechtermann. Sein Wachdienst in Sachsenhausen sei nahezu lückenlos dokumentiert. Josef S. habe sich an „in ihrem Ausmaß beispiellosen“ Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt, sagte der Vorsitzende der Strafkammer. Ob er nicht nur Beihilfe zum Massenmord geleistet habe, sondern auch selbst Täter gewesen sei, habe nicht mehr festgestellt werden können. Zu seinen Gunsten sei unter anderem berücksichtigt worden, dass er zur Tatzeit jung und lebensunerfahren gewesen sei und sich in seinem hohen Alter dem Gerichtsverfahren gestellt habe.

Im KZ Sachsenhausen waren zwischen 1936 und 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert. Zehntausende von ihnen wurden ermordet oder kamen auf andere Weise ums Leben. Das zuständige Landgericht Neuruppin hatte den Prozess nach Brandenburg an der Havel in die Nähe des Wohnorts von Josef S. verlegt, weil er laut Gutachten nur wenige Stunden am Tag verhandlungsfähig war. Im Zuge der Ermittlungen wurden unter anderem Dokumente aus der Gedenkstätte Sachsenhausen, dem Bundesarchiv in Berlin und der Stasi-Unterlagenbehörde ausgewertet.

„Er hat bekommen, was er verdient“

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, begrüßte das Urteil. „Das Urteil macht deutlich, dass Schuld keine Altersgrenze nach oben kennt“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er hob die Rolle von Nebenklage-Vertreter Walther hervor, der als früherer Staatsanwalt der Zentralstelle Ludwigsburg deren geänderte Rechtsauffassung mit herbeigeführt hatte.

Der Leiter des Wiesenthal-Zentrums in Israel, Efraim Zuroff, sagte über den Angeklagten: „Er hat bekommen, was er verdient.“ Zuroff zeigte sich aber besorgt, dass dieser wegen seiner angekündigten Revision die Strafe nur teilweise oder gar nicht absitzen könnte. Dies sei bei Prozessen gegen Nazi-Verbrecher heute meist der Fall. Sie seien dennoch bedeutsam: für die Gesellschaft und die Überlebenden.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sprach von einem wegweisenden Urteil. „Mit diesem Urteil, das im Namen des Volkes gesprochen wurde, distanziert sich unsere Gesellschaft von diesen Verbrechen, die einen Zivilisationsbruch darstellten“, sagte dessen Vorsitzender Romani Rose. Bemerkenswert sei, dass das Landgericht auch das Schicksal der von den Nazis verschleppten und ermordeten Sinti und Roma in der Beweisaufnahme berücksichtigt habe. Denn jahrzehntelang habe diese Verfolgung in Strafprozessen gegen NS-Täter kaum eine Rolle gespielt, kritisierte Rose. „Gerade für die wenigen noch lebenden Überlebenden des Holocaust ist diese öffentliche Anerkennung ihres Leids deshalb von großer Bedeutung, wenn sie auch sehr spät kommt.“ (epd/dpa)

Yvonne Jennerjahn, Klaus Peters

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