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Doping und Stasi: Der Mentalitätsumbruch im Landessport ist ausgeblieben

Die Aufarbeitung des DDR-Sports in Brandenburg zeigt, dass Medaillen, Rekorde und Siege noch immer wichtiger sind als Lehren der Geschichte

In meinen Augen wird Geschichte, werden Umbruchsprozesse am sinnfälligsten am konkreten Leben. Erlauben Sie mir deshalb, in aller Kürze eines vorzustellen. Das deshalb, weil an ihm der Sport der DDR, vor allem aber seine Nachgeschichte gleichermaßen symbolisch ablesbar sind.

Es geht dabei um Birgit Uibel, die unmittelbar nach dem Mauerbau, im Oktober 1961 in Belten, mitten im Braunkohleherz Vetschau, geboren wurde. (...) Als sie 14 war, wurde sie in die Kinder- und Jugendsportschule in Cottbus aufgenommen. Mit 16 Jahren und damit als Minderjährige erhielt sie vom Cottbuser Chefarzt Bodo Krocker - Mannschaftsarzt der DDR-Leichtathletik, Bezirkssportarzt und Stasi-IM mit Decknamen „Wartburg“, ab 1981 auch IME, also im Status eines Experten-IMs - erstmals männliche Sexualhormone. Das Mauerkind Birgit Uibel lief mithilfe der verabreichten Steroide in die Langsprint-Spitze der DDR, wurde 1982 bei den Europameisterschaften in Athen Sechste im 400-Meter-Hürdenlauf und gehörte ab da zur Weltspitze. 1981 machte sie ihr Abitur und heiratete. Trotz Einnahme der Pille wurde Birgit Uibel 1983 schwanger. Das Paar wollte das Kind, aber Parteileitung und Sportclubleitung entschieden anders. Schließlich kam vom Verbandstrainer die unmissverständliche Auflage, Birgit Uibel habe die Interruption in der Berliner Charité vornehmen zu lassen. Der Eingriff erfolgte umgehend. Nach dem Abbruch wurde eine Hormonbehandlung angeordnet.

Als Birgit Uibel zum zweiten Mal schwanger wurde, kam die prompte Order vonseiten der Cottbuser Clubleitung, den Sport an den Nagel zu hängen. Aufgrund der zeitnahen doppelten Hormondosierungen gestaltete sich die zweite Schwangerschaft als kompliziert. Das Kind wurde 1985 als Frühchen geboren, musste sieben Wochen künstlich beatmet werden. Da es sich auf der Intensivstation schwer infizierte, kam es zu körperlichen Behinderungen der Tochter. Die Sorge um das Kind, das neue Leben nach dem Sport, die unerkannten Dopingfolgen, eine aus dem Takt gekommene Ehe – die Jahre vor dem Mauerfall waren für Birgit Uibel nicht leicht.

Aber auch nach 1989 gelang es ihr nicht, das eigene Leben zu konsolidieren. Sie studierte, allerdings gab es zu der Zeit in Cottbus für sie keine Stelle. 1993 wurde die Ehe geschieden. Die Tochter musste mehrfach operiert werden und erhielt zwei künstliche Hüftgelenke. Auch wurde Birgit Uibel selbst ernsthaft krank. Leber, Schilddrüsen und Psyche streikten. Was Mitte der neunziger Jahre noch nach Lebenssuche aussah, glich zehn Jahre später - nach den erlittenen Deformationen im DDR-Sport - einer zweiten seelischen Enteignung. Hatte sich Birgit Uibel durch ihre klaren Aussagen beim Berliner Dopingprozess aktiv an der Aufklärung des kriminellen DDR-Sports beteiligt, wurde sie, wie Freunde berichteten, in Cottbus vor allem durch den ’inner circle’ des Cottbuser Sports  diskreditiert, ausgegrenzt und zunehmend isoliert. Sie sei immer wieder verleumdet worden, erzählte auch ihre Mutter. Dazu kamen ständig wechselnde Jobs, Schulden, Krankheiten, chronische Klinikaufenthalte und Alkohol, die ab da die Oberhand über ihr Leben gewannen. Birgit Uibel starb am 10. Januar 2010, mit 48 Jahren. Als Todesursache steht in ihrem Totenschein: „keine“.

Ihr Trainer Siegfried Elle äußerte nach dem Tod seiner Athletin: „Wenn Frau Uibel damals Dopingmittel bekommen hat, dann hat sie davon gewusst. Ich jedenfalls habe ihr kein Doping verabreicht und fühle mich auch nicht schuldig.“ Der dopingverabreichende Arzt Bodo Krocker, in Cottbus noch immer ein hochrenommierter Arzt, kann sich nicht einmal an seinen eigenen Stasi-Namen erinnern. Die Schlussfolgerung, er sei in der DDR IM „Wartburg“ gewesen, sei total falsch, mutmaßte er in einem Interview. Er kenne diesen Namen nicht und möchte sich auch nicht dazu äußern.

Der Sportclub-Chef von Cottbus, Dr. Werner Bielagk, der 1982 zu „Belastungsverträglichkeit bei Nachwuchssportlern“ promoviert hatte, besetzte nach 1990 Schlüsselfunktionen im vereinten Sport des Landes Brandenburg und wurde Leiter des Olympiastützpunktes Cottbus/Frankfurt sowie Vorsitzender des Landesausschusses Leistungssport im LSB Brandenburg. In einem Interview wusste er zu berichten: „Klar wurden unterstützende Mittel eingesetzt, aber das war immer eine Sache zwischen Trainer, Arzt und Athlet. Vieles dazu ist mir erst nach der Wende bekannt geworden.“ Und weiter: „Mit der Gründung des Landessportbundes Brandenburg brachten wir einen gut funktionierenden Leistungssport in den deutschen Sport ein.“

Wo hätte Birgit Uibel bei dieser Phalanx des Verleugnens, konkreter der Lüge, bei all der Abwehr von Verantwortung, dem Zynismus, der personellen Kontinuität belasteter Leute und dem sich daraus zwangsläufig ergebenden Filz Hilfe erwarten können? Wer hätte die Dynamik und Tragik ihres Lebens sehen und das multiple Trauma entsprechend wahrnehmen oder gar auffangen können? (...)

Was allen Geschädigten des Systems, egal, ob sie aus politischen Gründen aus dem DDR-Sport rausgeschmissen wurden, ob sie im Gefängnis saßen oder Opfer politischen Dopings wurden, aktuell schwer zu schaffen macht, ist der bis heute ausgebliebene Mentalitätsbruch im Landessport und damit auch der unübersehbare Mangel jedweden Satisfaktionsbedarfs. Der Kanute Thomas Kersten, 1974 wegen vermeintlicher „politischer Unehrlichkeit“ in übler Weise aus dem Armeesportclub Potsdam geworfen, bringt es im Gespräch auf den Punkt: „An wen soll ich mich denn mit meiner Geschichte heute wenden? An den Trainer, den Landessportbund, die lokalen Medien, die Politik? Die spielen doch alle auf amnestisch.“

In der Stasi-Akte über Thomas Kersten berichtet sein ehemaliger Trainer Dieter Krause als IM „Reiner Lesser“. Ebenso Auswahl-Coach Klaus Weber aus Cottbus alias IM „Bruno Baum“, der nach 1989, von der Bundeswehr bezahlt, den Strömungskanal in Potsdam betreute. Daneben findet sich aber auch Günther Staffa als IM „Schade“, heute tätig als Geschäftsführer Sport im Landessportbund. Dass noch immer ein seltsam verzahntes Stasi-Organigramm im Sport Brandenburgs aktiv ist, gehört längst zur Doppelhypothek des deutschen Sports vor und nach 1989, es belastet aber auch die Landespolitik schwer. Ein Organigramm, das wann bitte ernsthaft aufgeklärt wird?

Und die Medien? (...) Aktuelle Sportberichterstattung lebt vom konsequenten Einfühlungsversäumnis gegenüber den Opfern wie von der seltsam ungetrübten Weitererzählung der ruhmvollen DDR-Ära. Stücke über die Berliner Doping-Prozesse, investigative Recherchen zum Landessport? Fehlanzeige. Fehlanzeige für die Malträtierten, aber auch in der Politik. Bis auf Manfred Kruczek, eine hochengagierte Instanz in der Potsdamer Bürgerrechtsbewegung, so berichten die Opfer, wären keine Gegenüber zu erkennen, die sich für ihre Belange interessierten, geschweige denn einsetzten. Ende 1990 hatte Thomas Kersten vom Deutschen Kanu-Sport-Verband ein unverbindliches Entschuldigungsschreiben erhalten: „Das neu gewählte Präsidium und die Delegierten des ,Außerordentlichen Verbandstages’, hieß es in ihm, „bekräftigten Deine vollständige moralische Rehabilitierung. In ihrem Namen bitten wir Dich um Entschuldigung für erlittenes Unrecht.“ Das war’s. Ein pathetischer Schlussstrich unter einen ausgelöschten Lebenstraum. Sieht so echte Rehabilitierung aus? Die Politik in Brandenburg hat ihre Sorgfaltspflicht gegenüber dem Sport seit 1990 sträflich vernachlässigt, nicht nur gegenüber den Opfern, sondern insbesondere auch in der Frage der Evaluierung der Landesfachverbände. Nach dem Ende der juristischen Aufarbeitung im Jahr 2000 konnten Altlasten stillschweigend in die Strukturen zurückrudern und jüngere Leute generieren, die recht unverblümt einem neuen Chauvinismus Ost frönen. Auf diese Weise hat sich der Sport in Brandenburg zu einem Biotop, zu einer geschlossenen Gesellschaft entwickelt, der Sieg, Medaillen und Rekorde über alles geht. Die eigentlich drängende Frage jedoch bei aller Schadensbilanz ist, ob die Zugriffs- und Verzweckungskonzepte des DDR-Sports mittlerweile tatsächlich der Vergangenheit angehören. Wurde hier der klare Bruch gemacht und wirklich neues Land gewonnen? Auf der Suche nach einer Antwort auf die Nachlassregelung im Hinblick auf die Begabtenlandschaft DDR muss der Weg zwangsläufig noch einmal an die Lausitzer Sportschule Cottbus führen, da wo Birgit Uibel einst ihr Abitur machte. Dort, wie in Potsdam und Frankfurt/Oder, an den drei „Eliteschulen des Sports“ Brandenburgs, wird seit einigen Jahren mit aller Verve und ordentlich viel Geld das „Brandenburgische Modell“ oder auch das System „struktureller Verkopplungen“ umgesetzt, wie einer der geistigen Ziehväter des Konzepts, Prof. Albrecht Hummel, Prorektor und Inhaber der Professur für Sportpädagogik und -didaktik an der TU Chemnitz, in einem Interview in der DOSB-Presse, 47/2010, konstatiert. Da es „zu viele Reibungsverluste“ in Sachen Talentförderung für den Spitzensport gegeben habe, sollte „die bisherige Mischstruktur von Schule und Verein, das additive Nebeneinander von Schule und Leistungssport“ aufgehoben werden. „Das bedeutet: Leistungssportliche Inhalte werden vollständig in die Schule und das schulische Unterrichtsgeschehen einbezogen. Das leistungssportliche Training findet also vollständig im Kontext der Institution Schule statt ... Eine bestimmte leistungssportlich betriebene Disziplin wird somit zu einem Unterrichtsfach, grundsätzlich wie Deutsch oder Mathematik.“

Schule als genuiner Trainingsort? Es ist dünnes Eis, auf dem sich das hochambitionierte Projekt der „Brandenburger Eliteschulen des Sports“ mit seinen vielen Lehrertrainern bewegt. Dünn deshalb, weil im Hinblick auf die derangierten DDR-Konzepte, die zu viele Hartz IV-Bezieher und bergeweise seelischen und körperlichen Notstand wie etwa im Fall Birgit Uibel produziert haben, keine ausreichend klare inhaltliche Abgrenzung und glaubwürdige Transparenz auszumachen ist. Und welchen Sinn auch machen die sogenannten neuen „Bildungsverständnisse“ und Konzepte, wenn sie ein weiteres Mal zulasten der Schule und damit zulasten von Lebensperspektiven hochmotivierter Begabungen gehen? Kurzum: Warum dem freien Sport in Brandenburg nicht endlich sein ’89 ermöglichen.

Die Autorin ist ehemalige DDR-Sprinterin, heute Schriftstellerin und Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ sowie Vorsitzende des Dopingopfer-Hilfevereins.

Ines Geipel

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